Viel ließe sich sagen und schreiben über Phänomene radikaler Ablehnung von empfundener Fremdheit, wie sie nun in Deutschland überall sichtbar sind. Und tatsächlich wird auch sehr viel gesagt und geschrieben über Haltung und Hass, über Pegida, brennende Flüchtlingsheime, die AFD, die IB, bedrohte Bürgermeister, Angst auf den Dörfern, über Nazis, „Volksverräter“, „Lügenpresse“ und „besorgte Bürger“. Ein Aspekt kommt mir zu kurz.
Es hieße, sich gemein machen mit der Weltsicht Rechtsextremer, wenn man annähme, manche Menschen seien einfach ignorant, vorurteilsbehaftet, desinteressiert, Fakten unzugänglich oder paranoid, ohne nach Gründen dafür zu fragen. Um die Gründe soll es hier jedoch nicht so sehr gehen. Zunächst möchte ich auf die Rhetorik eingehen, die Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Fremdenhass begegnen will. Auf mich wirkt sie stets hilflos. Dies aus dem Grund, dass sie niemals die erreichen wird, die zu erreichen am wichtigsten wäre. Die wesentlichen Inhalte werden zum Crash formiert: Den Ansichten Fremdenfeindlicher wird einfach die gegenteilige Ansicht entgegengestellt. Ich frage mich, mit welcher Erwartungshaltung. Ist die Devise „Fremde Kulturen sind bedrohlich und gehören hier nicht her“, wird dem entgegnet „Menschen aus anderen kulturellen Zusammenhängen sind eine Bereicherung und keine Bedrohung“. Natürlich geht es oft mehr darum, Signale zu setzen, sich auch miteinander als Gleichgesinnte zu versammeln (z.B. bei Festen und Aktionen) und sich gemeinsam und öffentlich zu positionieren. Aber selbst Entgegnungen aus der Politik wirken hilflos und dogmatisch - für rechte Klientel genauso dogmatisch wie das eigene Gedankengut. Der einen Ansicht wird die andere schlicht entgegengestellt, ohne zu sagen warum. Das ist auch schwierig ohne Diskurs, in den einzutreten freilich immer zwiespältig ist. Rechten wird hier jedoch eine Symmetrie suggeriert. Das unterstützt ihren Eindruck eines Kampfes, einer diametralen Entgegensetzung, Spaltung. Dem Satz „die gehören hier nicht her“ ist freilich nur weit ausholend zu begegnen. Aber wer aus der Politik hätte jemals so weit ausgeholt? Noch dazu als Antwort auf Fremdenhass. Was bleibt ist die schäumende Reaktion aus dem Lager der CDU nach dem Bundespräsident Wulff 2010 feststellte: „Der Islam gehört zu Deutschland“.
Für mich ist die Beschäftigung mit Leuten, die von Vorurteilen leben und sogar bewusst ablehnen, diese zu prüfen, also auch mit Leuten die alles ohne Hinsehen ablehnen, was ihnen fremd und anders oder nicht nachvollziehbar1 erscheint aufs engste verknüpft mit der Frage, was Kinder in der Schule lernen.
Die Schule wird nach wie vor als selektierende Faktenfüllinstitution verstanden. Nach wie vor steht das „Lernen“ im Sinne von Informationen-aufnehmen im Vordergrund. Nach wie vor wird diszipliniert und selektiert. Was hat ein Mensch gelernt, der diese Institution verlässt? Oder fragen wir anders: Was weiß der Mensch, worauf seine Gesellschaft wert legt und was sie von ihm möchte?
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Ich muss etwas leisten.
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Ich stehe im Wettbewerb und muss möglichst besser sein als andere.
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Da das Ergebnis zählt, ist es möglich, Mittel und Wege zu finden, eine scheinbar gute Leistung vorzuspiegeln.
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Ich muss mich anpassen.
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Wissen ist genormt, statisch und gleichzusetzen mit Information.
Ich möchte fair sein - das heutige Schulsystem versucht eine investigative Lernhaltung zu vermitteln. Gute Schulen möchten, dass die SchülerInnen nachfragen, diskutieren und eigenständig ihre Meinungen und Interessen in den Unterricht einbringen. Leider wirkt das wieder konditioniert. Wenn ich zur Schule gehe, weiß ich, was man von mir erwartet. Ich weiß: in der Schule erfolgreich zu sein2 bedeutet, Erwartungen zu erfüllen. Dabei gab und gibt es immer wieder Stimmen, die das traditionelle Schulsystem strukturell hinterfragen3. Sie beziehen sich nicht nur auf Effizienz und Zielsetzung, sondern auch auf die Frage nach notwendigen Kompetenzen in unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der sich Wissen immer mehr spezialisiert, die aber auch endlich erkennen muss, dass allein dieses Spezialistenwissen und der wirtschaftliche Erfolg nicht Zweck und Mittel von Bildungspolitik sein können.
In Krisen polarisiert sich die Gesellschaft, was eine neue Krise schafft, die alte verstärkt und diese Defizite fehlender Kompetenzen sichtbar macht, die ansonsten wohl verborgen blieben. Dabei geht es nicht um „Bildungsniveaus“ o.ä. Auch Verantwortliche aus der Politik, vor allem im Lagerkampfdenken rivalisierender Parteien geschult (ein Denken, das eigentlich in der zweiten Klasse einigermaßen überwunden sein sollte), zeigen ihre Überforderung im Diskurschaos der Radikalisierung. Gefragt wird nach Strategien gegen irgendwen (meist die Partei AFD, denn Parteienkampf ist ja vertraut), manchmal noch nach Argumenten (ob die gebracht werden ist aber eine Frage der Strategie), doch es zeigt sich eine echte Entfremdung und Hilflosigkeit, auch in den gewohnten Statements.
Was soll das bringen, Provinzpatrioten zuzurufen „Migranten sind toll!“? Für sie sind Migranten nicht toll und es ist selbstverständlich ihr gutes Recht, skeptisch zu sein, solange sich die Ablehnung nicht gegen Menschen(gruppen) an sich richtet (was sie aber tut). Wichtig ist, genau dafür einen Umgang zu finden und das Handwerkszeug zu besitzen, diesen Umgang herzustellen. Es geht nicht um heile Welt. Es geht nicht darum, dass alle (m)einer Meinung sind. Es geht darum, mit verschiedenen Ansichten, Idealen und Überzeugungen umgehen zu können, statt sich in der eigenen Echokammer zu verbarrikadieren. Dabei spielt eine gewisse Aufrichtigkeit und ein gewisses Interesse, andere Positionen nachzuvollziehen und in Relation zu setzen, durchaus eine Rolle. Dies ist jene Einstellung, die gelehrt werden kann und muss. Nicht als Bildungsgut für privilegierte GymnasiastInnen. Als Grundkompetenz in der und für die Gesellschaft.
Es geht auch nicht darum, Mitleid zu haben oder gar zu fordern. Denn dieses willkürliche und flüchtige Gefühl, so menschlich es ist, darf niemals für verantwortungsvolles, ethisches Handeln entscheidend sein. Aber (und das ist etwas anderes) das Wichtigste für in unserem Sinne moralisches und verantwortungsvolles Handeln ist die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können (s.u.). Man kann mit Sicherheit sagen, dass dies eine Fähigkeit ist, die Leuten abgeht, die sich öffentlich wünschen, noch mehr Kriegsflüchtlinge ertränken im Meer, oder Leuten, die einen Schießbefehl gegen Flüchtende fordern, Asylunterkünfte anzünden und Menschen im Rahmen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angreifen.
Zum Thema „Diskurs der Flüchtlingskrise in Deutschland“ ließe sich unheimlich viel sagen und schreiben. Ich möchte mich hier auf wenige strukturelle Punkte beziehen, die die Debatte dominiert haben und ein ungeheures Defizit an „diskursivem Vermögen“ in der Gesellschaft offenbaren. Dieses Vermögen wird offenbar unzureichend vermittelt. Es geht hier wohlgemerkt nicht um Inhalte sondern um Fähigkeiten, die notwendig sind, um einen Diskurs führen zu können, bzw. um eine persönliche Haltung oder Einschätzung von Problemen und Sachlagen vornehmen zu können.
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Der erste Punkt ist eine Technik, die im Prinzip bereits im Kindergarten angewandt wird, wenn gesagt wird: „ … Du willst doch auch nicht, dass dich jemand haut!“ Es ist die Fähigkeit gemeint, sich in jemand anderen hineinversetzen zu können. Noch mehr ist es eigentlich die Übung, sich stets selbst in einer Position zu imaginieren, über die man ein Urteil fällen möchte. Es scheint, dass sich viele Leute niemals mit dem Gedanken befasst haben, sie könnten selbst Flüchtlinge sein, oder wie sie sich als Flüchtling und unter extremen Umständen verhalten würden. Noch nicht mal die rezente Fluchtgeschichte der Deutschen, unserer Großelterngeneration etwa, wird als Perspektive integriert. Eigentlich unglaublich. Diese Technik hat natürlich die Grenzen dort, wo ich aus ideologischen Gründen jede Vergleichbarkeit ablehne. Wenn ich mich als mit bestimmten Menschen völlig unvergleichbar bestimme und so die Basis für eine gemeinsame Beurteilung und Betrachtung einer Sachlage negiere, bin ich offen und klar rassistisch und kann mich auf keine gemeinen Grundlagen wie Menschenrechte, moralische Verbindlichkeit (in der Nachfolge Kants), juristische Grundsätze oder auch die Gültigkeit von allgemeinen Regeln an sich berufen. Denn all diese Regeln haben die Gleichbehandlung (oft missverständlich als Gleichheit bezeichnet) von Menschen als Grundlage, und was an Stelle von generellen Regeln tritt ist Ideologie und muss inhaltlich mit Wertigkeiten begründet werden.
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Der zweite Punkt scheint ein Unvermögen zu differenzieren. Damit ist verschiedenes gemeint. Am markantesten scheint mir ein großes Missverständnis zu sein, das zur Polarisierung der Debatte beigetragen hat: Scharfe Gegner einer offenen Flüchtlingspolitik, oder besser gesagt, Gegner von Flüchtlingen und „Fremden" haben in bewährter Manier der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit einer Gruppe von Anfang an bestimmte Attribute zugesprochen. Z.B. Verbreitung von Krankheiten, hohe Kriminalität, Respektlosigkeit vor Europäischer Kultur, Sexismus oder terroristische Motive. Es muss nicht einmal so detailliert sein, es reicht „solche“ an sich abzulehnen. Das Interessante ist, dass diese Gruppe stets das Gefühl zu haben schien, das andere Ende des Meinungsspektrums behaupte das Gegenteil und es handelte sich um eine symmetrische Auseinandersetzung um die Charakterisierung von „Flüchtlingen“ im Allgemeinen. Reines Aufrechnen, Arithmetik, eine Materialschlacht. Deswegen ist auch der Begriff des Gutmenschen, ob negativ oder positiv gewendet, irreführend und schwierig zu verwenden. Es schien und scheint kein Verständnis davon zu geben, dass es nicht darum geht, Einreisende pauschal als gute Menschen, als Sympathieträger, noch nicht mal als „integrationswillig“ oder als in moralisch begründeter Position zu kategorisieren. Es geht darum, sie eben nicht zu charakterisieren und kein geschlossenes und homogenes Gruppenbild zu konstruieren. Nicht essentialistisch zu denken. Kontraproduktiv ist die Zueignung von günstigen genauso wie von bedrohlichen Eigenschaften. Beides ist rassistisch und für die Frage nach Aufnahme und Schutz völlig unerheblich. Dies ist eine Frage des Rechts ohne Ansehen der Person (Justitia hat die Augen verbunden) bzw. der humanen Rechtsgrundsätze und -ansprüche, vor allem aber des Menschenrechts. Aber das würde ja wieder eine Perspektive der Gleichstellung voraussetzen (s.o.). Ebenso eine Frage der Moral und der ethischen Werte, übrigens jener Werte, die Pegida zu verteidigen vorgibt.
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Alle wissen, was ein Klischee ist, aber die eigenen Urteile sind natürlich immer objektiv. Das Bewusstsein, dass es feste Bilder gibt, die in der Gesellschaft schwimmen, die auch im eigenen Kopf wohnen, muss mit der Notwendigkeit einhergehen, sich damit auseinanderzusetzen. Im Bezug auf Antisemitismus wird das in der Schule z.T. bereits ganz gut angewandt. Man beschäftigt sich mit dem langen Diskurs der Märchen und Verleumdungen, mit Brunnenvergifter- und Kinderessermythen, spürt den historischen Gründen und Zusammenhängen dafür nach (idealtypisch). Es ist wichtig, ein Gefühl4 dafür entwickeln zu können, wie solche Narrative und Stereotype entstehen, sich dynamisch verbreiten und welch verheerende Wirkung sie anrichten können. Wie anfällig man selbst ist und immer bleibt. Nur dann kann sich Misstrauen und Skepsis einstellen angesichts einer Teilung in gute und schlechte Menschen bzw. „Kulturen“.
Mit dem letzten Punkt hängt eine der wichtigsten Fertigkeiten zusammen, die notwendig sind, um sich in großen und kleinen sozialen Zusammenhängen zu verständigen und einen Konsens oder zumindest eine Lösung, oder auch nur einen gemeinsamen Weg zu einer möglichen Lösung zu finden. Dies ist ein gewisses Maß an Selbstreflexion und Selbstbeobachtung, verbunden mit dem Bewusstsein, dass man sich möglicherweise irrt. Ein Pegida-Anhänger hat seine Medienskepsis einmal so formuliert: „Ja, ich bin sicherlich unvoreingenommen bei diesen Dingen, solange es wie gesagt auch der Realität so entspricht wie man das auch als Bürger selbst empfindet.“5 Und Oberst Pazderski, Spitzenkandidat der Berliner AFD vertrat im Wahlkampf den Satz „Das, was man fühlt, ist auch Realität.“6 Ganz klar geht es bei all den Protesten und bei Fremdenfeindlichkeit um ein starkes Empfinden, ein Gefühl, ein inneres Widerstreben. Was immer diesem „Empfinden“ widerspricht muss falsch sein, und wird dann schnell zur „Lügenpresse“. Eher lügen alle, als dass man sich selbst geirrt hat und gegen sein Gefühl wendet. Leute könnten mit diesem Empfinden wesentlich reflektierter umgehen, indem sie sich fragten, warum sie solch einen Widerwillen gegen Menschen haben, die sie gar nicht kennen. Ist das nicht merkwürdig? Nun, wahrscheinlich doch nicht, denn wir leben in einer Tradition des Gruppendenkens, bis hinein in die Steuerung der Politik durch Parteien, die es erlaubt, irgendwelche Namensschilder an irgendwelche Merkmale zu heften und damit eine starke Wertung zu implementieren. Zudem sucht man sich ja seine bestätigenden Beispiele und „es ist ja bekannt...“ - Sentenzen um die eigene Position nachträglich zu unterfüttern. Hätte man jedoch gelernt, sich mit Urteilen zunächst zurückzuhalten und sich um Himmels Willen zu informieren, und nicht nur auf ein diffuses Empfinden (besonders gegen etwas, besonders gegen Menschen) zu setzen, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.
Selbstverständlich müssen die Medien und auch der eigene Medienkonsum stets kritisch begleitet werden7. Natürlich sollte/muss man sich auch andere Quellen erschließen, als die größten Produkte der wenigen Medienkonzerne. Aber das heißt
nicht, alles abzulehnen, was meinem Empfinden widerspricht. Sich mit diesem Empfinden auseinanderzusetzen, damit umzugehen, sich vielleicht doch
darüber zu wundern, warum man plötzlich brüllend vor einem brennenden Flüchtlingsheim oder einem Bus voller Migranten steht, ist eine notwendige Voraussetzung, um überhaupt in einen Dialog mit
Andersdenkenden, zunächst jedoch mit mir (Arendt) einzutreten. Den Willen jedoch, einen Dialog zu finden, die Überzeugung, dass der Dialog ein
Mittel ist, Konflikte zu überwinden, den Wunsch Konflikte zu überwinden statt Kämpfe auszutragen, muss man an einem bestimmten Punkt bereits haben oder vermittelt bekommen haben. Hier lässt sich
tatsächlich einmal das Schlagwort „Werte“ oder „Identität“ bemühen.
Dass Medienkompetenz, soziale und sprachliche Kompetenz auf das engste verwoben sind, zeigt der Satz von Konfliktforscher Andreas Zick zu Hate Speech und Mobbing im virtuellen Raum: „Viele Nutzer sind nicht in der Lage, ihre Kritik kompetent vorzubringen.“7a Wenn es immer mehr Menschen gibt, die niemals gelernt haben, reflektiert und offen zu diskutieren, zu streiten, zu kritisieren ohne persönlich zu werden (auch wenn das nicht immer so leicht sein mag), muss sich niemand über den Ton im öffentlichen Umgang wundern. Und: ja, weil es ums gemeinsame und öffentliche Zusammenleben geht, fällt es auch in öffentliche resp. staaliche Verantwortung, sich um diese Art der Bildung zu kümmern. Nach Glücksspielart zu hoffen, dass genügend Eltern diese Kompetenzen fördern oder ein überfordertes Schulmilieu kompensieren, ist keine Option. Diese Aufgabe gut gebildeten, umsichtigen Eltern zu überlassen heißt - im Gegenteil -, soziale Durchlässigkeit zu verringern. Denn diese Debatte hat sehr viel mit Bildung, Herkunft, Einkommen zu tun. Auch dadurch erfüllt sich ein Konflikt der Nichteliten gegen Eliten, also gegen Gebildete und Gutverdienende mit Einfluss (oder auch ohne). Und genau solche Art der Prekarisierung oder Weiterprekarisierung kann wieder der Anfang eines Teufelskreises sein. Diese Trennung muss überwunden werden, aber sie wird es nicht durch (Bildung mit dem Ziel von) Jobs oder Geld sondern durch Teilhabe. Das heißt mitredenkönnen, und nicht nur können, sondern auch können. Materielle Versorgung ersetzt Teilhabe bzw. Fähigkeit, Möglichkeit und Willen zum Austausch nicht.
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Wissen bringt nichts. Informationen helfen uns im Informationszeitalter überhaupt nicht weiter. Wichtig sind Relationen, Perspektiven, Evaluationen und Hermeneutik7b. Wem das in der Postmoderne zu postmodern klingt, hat wahrscheinlich recht – es ist postmodern, weil genau darin die aktuelle Herausforderung besteht. Es geht darum, Denken als soziale Anforderung zu erlernen. Denn wir sehen auch: Wichtig ist den Menschen (in Deutschland) nicht mehr so sehr die Befriedigung eigener materieller Bedürfnisse wie noch vor einigen Jahren8. Es gibt nun andere, vielleicht „geistige“ Bedürfnisse, sei es Zeit für die Kinder, Akzeptanz und Gleichstellung von Minderheiten, Umweltschutz, Gewissheit beim Essen, Gesundheit, Gerechtigkeit für Bedrohte und Arme weltweit, oder auch Ästhetik und Kultur als Teil des öffentlichen Lebens und gemeinsamen Raumes. Diese Bedürfnisse sind aber nicht modische Extravaganz eines egozentrischen Individualismus, wie es z.B. die AFD verkauft. Sondern dies sind Anforderungen der Gesellschaft als Ganzes, weil sie sonst nicht (mehr) funktioniert und keine Gesellschaft mehr ist. Denn sobald diese Forderungen in Breite auftauchen, sind es Forderungen an alle. Und sobald sich die Gesellschaft als Ganzes herausgefordert sieht, z.B. durch globale Krisen, die sich niemand gewünscht hat, und deren humanitäre Folgen, ist es auch eine Anforderung an alle. Willensbildung, Abwägung und Pragmatik müssen sich an dieser Stelle irgendwie zusammen vollziehen lassen. Wie immer in der Demokratie steht dann zum Schluss der leidige Kompromiss. Niemand ist mit ihm zufrieden. Diesen trotzdem zu schätzen, als Kompromiss fiele z.B. Pegidisten im Traum nicht ein, doch gerade dies ist eine demokratische Grundkompetenz.
„Als aufgeklärte Demokraten sollten wir reflexiv mündig sein. Klingt kompliziert, meint aber: Wir wissen, was wir mit Vorurteilen und Rassismus anrichten, wir wissen um unterschiedliche
Wirklichkeitsinterpretationen, sind tolerant gegenüber widersprüchlichen Meinungen und können Zivilcourage üben. Diese reflexive Mündigkeit fehlt Populisten oft. Sie sind auf die Interessen ihrer
Bezugsgruppe fokussiert, auch wenn das nur imaginierte Gruppen sind, wie "das Volk". Sie haben wenig interkulturelle Erfahrungen, verstehen Diversität als Bedrohung und hängen an einfachen
Volksbildern.“8a
In einer Situation der Polarisierung wäre es schädlich und plump, sich hinzustellen und mit dem (vergeblichen) Impetus der Überzeugungsarbeit Flüchtende als „gute Menschen" zu beschwören, anstatt einfach als Menschen (obwohl ersteres mittlerweile kaum noch vorzukommen scheint). Wie gesagt bedient man damit ein gewisses essentialistisches Muster. Geboten ist, auf Ideologie nicht mit Ideologie zu antworten. Nicht mitzuspielen und nicht zu legitimieren, was eine voreingenommene und nicht dialogfähige, teils bewusst dialogvermeidende, agitierende und verleumderische Haltung ist. Wichtig ist die Ermächtigung, sich ein eigenes Urteil zu bilden, aber auf eine selbstreflexive Art und im pragmatischen Bewusstsein unserer sozialen Konstitution. Also ein Vermögen zuzuhören sowie eine Grundstimmung der Solidarität ( - schwierig in einem Umfeld des latenten Wettbewerbs).
- Klingt das naiv? Schmeckt das irgendwie nach Kant und Habermas? Nach Humboldt? Fest steht, dass die vermeintlich so nutzlosen Geisteswissenschaften sich mit Urteilsbildungen/-findungen (dieser Art) befassen und überhaupt Reflexion und Differenzierung lehren. Disziplinen, bei denen das Verstehen, also Intersubjektivität im Vordergrund steht. Eine Domäne, die leider keinen Gewinn bringt und damit tendenziell in vielen Ländern abgeschafft wird9. Tenor: Ein überflüssiges Vergnügen, eine Art Kunst („artes liberales“), ein unproduktiver Luxus.
Wenn aber in unseren Schulen „nur“ statisches „Wissen“, also Feststehendes gelehrt wird, also Definitionen, Formeln, Bezeichnungen, Daten, muss man sich nicht wundern, dass die Gesellschaft genau so statisch, essentialistisch und auch dichotomisch denkt (a ist definiert als a und steht b gegenüber). Strenge und distinkte Einordnungen, Zuordnungen Wertungen, Platzierungen werden damit verlangt. Das heißt, Flüchtlinge sind gut oder schlecht. Sie bringen Vorteile oder Nachteile. Sie haben einen Ort, an den sie gehören, ein Verhalten und eine Kultur, die ihre ist. Desgleichen das monströse „Wir“. Für Hybridität, Transformation, Ambivalenz, Nuancierung fehlt da schnell der Blick. Aber das ist Teil der bundesdeutschen „Migrationspolitik“ seit 50 Jahren und Teil der Wahrnehmungskultur in diesem Land10 und in vielen anderen.
Mit statischem Schulwissen sollen dann die Leute einen der Jobs ergattern, die größtenteils darin bestehen, irgendwem irgendwas zu verkaufen, oder irgendetwas zu produzieren und dann jemanden zu überzeugen, es zu kaufen. Natürlich müssen wir auch weiterhin die Grundlagen vermitteln, damit jemand Kühlschränke bauen oder nützliche Sachen erfinden kann (ach was?), das versteht sich von selbst. Aber Schulbildung á la Arbeitsmarkt beschert uns im Ernstfall weiteren Handy- und Technikklimbim, während sich die Leute an die Gurgel gehen, weil sie nicht kommunizieren, nachvollziehen, reflektieren, zuhören und Kompromisse eingehen können. Wir brauchen das Vermögen, jenseits von Polemik und Instrumentalisierung unseren Vorteil im Vorteil der Anderen suchen und finden zu wollen und zu können. Keine sorgfältig produzierte Maschine kann eine fragmentierte und verfeindete Gesellschaft einen.
„Die Krise des logischen, kritischen, auf der Schrift beruhenden Denkens ist dabei, von neuen Codes überholt zu werden. Es ist noch nicht abzusehen, welche Denkart der vorangegangenen folgen wird, obwohl wir bereits über zahlreiche Symptome dafür verfügen. Zweifellos ist, dass für diese neue Denkart das Intersubjektive, die zwischenmenschliche Beziehung, ungefähr jenen Platz einnehmen wird, der in der vorangegangenen von der Objektivität besetzt war. Gegenseitige Anerkennung wird den Platz einnehmen, der vorher von Bedingung und Freiheit besetzt war. Falls Sie es wollen, kann dabei von einem etwas Mündiger-werden des Menschen gesprochen werden. Er wird erwachsener, weil er der Objektivität entwächst und in die Intersubjektivität hineinwächst.“
Flusser, Umkodieren, Lob der Oberflächlichkeit
1 Dazu gehören z.B. auch Dinge wie „Genderwahnsinn“, „Homolobby“, Leugnen des
Klimawandels, antirassistische Sprachpolitik etc. Das sich all dies so oft zusammenballt, ist kein Zufall.
2 In der Schule erfolgreich sein, heißt, als Kind überhaupt erfolgreich zu sein. Erfolg ist ja überhaupt sehr eng mit Wettbewerb und Leistung verbunden. Diese Dinge finden ultimativ in der Schule statt. Jugendlichen ist aber auch vollkommen klar, dass Erfolg und Misserfolg in der Schule großen Einfluss auf Möglichkeiten und Perspektiven im Berufsleben haben. Die Angst vor dem Scheitern und die Strategien der Vermeidung aufgrund dieser Angst wirken desaströs auf Kreativität, Spontanität, Entwicklung und Selbstvertrauen. Siehe auch z.B.
3 Z.B. http://derstandard.at/2000025297218/Hirnforscher-Huether-Viel-wichtiger-als-Wissen-ist-Erfahrung. Richard David Precht hat auf die Entwicklung der Schule aus dem Kasernengedanken hingewiesen.
4 Solche „Gefühle“, oder Kompetenzen der Einschätzung, Sensibilitäten, oder wie auch immer man dies nennen mag, können nur über lange Zeit und durch große Anschaulichkeit vertraut gemacht werden. Ein ähnlicher Vorgang wie Akkulturation und Horizontbildung im Erwachsenenalter (z.B. durch eigene Migration oder Umbrucherfahrungen). Deswegen geht es hier um Schulbildung.
6 Berliner Zeitung vom 8.9.2016, S. 11.
Es ist übrigens untersucht, dass die Präsentation von gegenteiligen Beweismitteln bei den Meinungsträgern oft nicht zu Korrekturen oder zum Umdenken, sondern im
Gegenteil zur Verstärkung der eigenen Meinung führt. Das nennt sich „backfire effect". https://thesocietypages.org/socimages/2017/02/27/why-the-american-public-seems-allergic-to-facts/
und https://www.unc.edu/~fbaum/teaching/articles/PolBehavior-2010-Nyhan.pdf
7 All dies ist auch Medienkompetenz in einer immer komplexer und immer diverser werdenden Welt. Eine, in der es immer mehr auf Verständigung ankommt, weil sonst unsere Gesellschaften zerkrümeln. Gerade weil wir uns jetzt selbst informieren können und alle in unserer eigenen kleinen Medien-Nachrichten-Weltbild-Blase sitzen können, wenn es uns nur um Bestätigung unseres Gefühls geht. Und das ist offenbar viel häufiger der Fall, als zunächst gedacht. (Nach Trump gewann der Diskurs der Echokammer oder Filterblase massiv an Aufmerksamkeit.) Siehe auch http://www.spektrum.de/news/warum-wir-nicht-glauben-was-uns-nicht-passt/1483465.
7a http://www.tagesschau.de/inland/interview-andreas-zick-101.html.
7b Pennycook und Rand haben z.B. in ihrer Studie über Fake News und „Bullshit Receptivity“ herausgestellt, dass stärker als Bildung und soziale Herkunft das Vermögen zum „analytischen Denken“ entscheidend ist.
8 Gut sichtbar sind neue Ansprüche auch auf dem Arbeitsmarkt, wenn etwa der Generation Y („why?“) das Gehalt deutlich weniger wichtig ist, als Arbeit und Privates vereinbaren zu können, sich im Arbeitsumfeld wohl zu fühlen oder sich mit dem sog. Arbeitgeber identifizieren zu können. Vgl. auch WiLa Arbeitsmarkt (B,K,S) 11/2016.
8a Andreas Zick im Interview: http://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-09/andreas-zick-provokation-rechtspopulismus-interview/seite-2.
9 http://www.zeit.de/2016/15/geisteswissenschaften-abschaffen-japan-gesellschaft-grossbritannien-usa
10 Hier zeigt sich wieder der Indikator Sprache: Es ist ja bereits ein Schritt, dass man nicht mehr ständig von „Türken“ spricht bei Leuten, die z.B. einen deutschen Pass und Geburtsort haben. Die Ersatzbezeichnungen sind allerdings Gegenstand von Diskussionen.
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