Kürzlich erschien wieder ein Werbeplakat, das uns implizit versprach, mit dem beworbenen Produkt nichts mehr verpassen zu können. Wenn auch etwas unklar bleibt, wie das eine Limonade bewerkstelligen soll, so ist die Botschaft doch nicht erstaunlich oder neu.
Oft möchte Werbung deutlich machen, dass es ein Verlust wäre, das Produkt zu verpassen und man im Gegenteil mit dem Produkt als Sensation nichts mehr -verpassen- könne, weil das ja bereits das ultimative Ereignis sei.
Diese Strategie zeigt sich allerorten. Nicht nur physische Produkte, auch Moden („Styles“, „Hypes“, „Trends“), Nachrichten oder Kenntnisse und Gerüchte dürfen nicht „verpasst“ werden. Und dafür garantieren Medien wie Zeitungen, Magazine, Blogs, Channels oder auch Räume wie Clubs, Bars, Festivals, Cons, wo sich etwas bzw. angeblich alles - alles Wichtige - abspielt.
Es interessiert hier nicht so sehr die Frage der Deutungshoheit – was darf nicht verpasst werden, an welchen Orten werden Trends geboren und wo/wie legitim? – sondern vielmehr der Gedanke der Verbindlichkeit, der dahinter steht.
„Verpassen“ bezeichnet zunächst, dass hier etwas aus dem Gefüge geraten ist, fahrlässig zerfallen lassen wurde. Etwas passt nicht mehr, ist unpassend, klafft auseinander zwischen dem Soll und dem Ist. Dabei ist das, trotz des scheinbar passiven Charakters als widerfahrendes Ereignis, eine aktive Sache. Ich verpasse etwas. Wenn mir hingegen etwas verpasst wird, bezieht sich das auf die andere Funktion des Präfixes ver-: Etwas versehen, eine Verfügung aussprechen/umsetzen (eine, die die Fugen eliminiert, etwas zusammenfügt und so die Passung vollendet). So bekomme ich das was (zu) mir passt, auch wenn mir das nicht passt. Das kann auch passieren, wenn mir jemand „eine verpasst“.
Das nicht-zusammengefügte, nicht von einem Sinn verfügte hingegen ist Unfug.
Die Kluft, um die es hier geht, muss oder sollte natürlich passiert werden, damit es zum Schluss passt. Das, was passiert, bin also ich, und wenn ich den falschen Ort passiere, passiert (mir) das Falsche und ich habe das Richtige verpasst. Das ist eine Abwesenheit, d.h. ich musste diese Runde eindeutig passen.
Der interessante Gedanke hinter dem Verpassen ist eine unsichtbare Agenda des Sollens. Oder Solltens. Denn verfügt wird sie vom despotischen Ich und erhält sich so eine scheinbare und scheinheilige Autonomie. Bestimmend ist die Vorstellung eines Gefüges, das ein Ideal repräsentiert. Ein Ideal der Unterhaltung, der Teilnahme, der Verpflichtung. Ein Nichtnachkommen dieser Verfügung bedeutet einen Nachteil. Für mich, meine Reputation, meinen Beruf, mein Leben. Eine Wertung ist damit implizit. Hier wird gesagt, was wichtig ist. Aber es wird damit auch gesagt, es gibt eine Wertung. Es gibt ein Wissen, einen Maßstab von dem was wichtig ist, was entscheidend ist, was dem Zufall nicht überlassen werden darf. Einen Plan, eine Festsetzung. Hier gibt es eine augenfällige Ähnlichkeit mit dem Konzept „Schicksal“, aber dem Schicksal kann man nicht entrinnen. Die Agenda hier besteht jedoch darin, aufzupassen, dass einem nichts entrinnt. Wer etwas verpasst ist selbst Schuld. Und der Trick im Leben, die Erfüllung des Schicksals bestehe erst darin, die entscheidenden Sachen nicht zu verpassen. Jeder sei seines Glückes und Schicksals Schmied und schmiede nur nicht das Falsche oder etwa nichts.
Diese Art, vom Verpassen zu sprechen, wird virulent in einer Zeit der Wahlmöglichkeiten und -zwänge. Die Gesellschaft die den Konsum, Wettbewerb und damit die Wahl, das Treffen der Wahl in den
Mittelpunkt stellt, verlangt vom Individuum Entscheidungen zu treffen. Ständig. Für dies oder für etwas anderes. Und damit gegen etwas. Und jede Entscheidung ist eine Entscheidung über das Ich,
denn was gekauft wird, kauft das Ich für sich, konsumiert das Ich selbst, bezahlt das Ich selbst, besitzt das Ich und lässt eine Identität und Zugehörigkeit signalisieren, auch vom Ich an sich
selbst. Was man nicht verpasst, hat man getroffen, nämlich die Entscheidung. Und diese unmittelbaren Betroffenheiten – meiner Entscheidung von mir und ich von meiner Entscheidung – treffen sich
in mir und konstituieren eine Person, die ganz bestimmte Entscheidungen trifft1. - Trifft zu. „Passt.“ - Konsistente Person. So wird in fortschreitender Bricolage ein Bild aus Kaufentscheidungen zusammengesetzt. Eines,
das man von sich wirklich hat, oder eines, das man gerne vermitteln möchte. Im Meer der fast unendlichen Möglichkeiten bleibt die Entscheidung jedoch notwendig, sie kann nicht zufällig sein. Gott
würfelt nicht.
Es geht aber nicht so sehr darum, dass die Entscheidung konsistent sein muss, mit dem übrigen (Kauf)verhalten und sie sonst „falsch“ wäre. Schließlich erfindet und kreiert sich der neueste Mensch ständig neu und möchte dabei keine Zwänge und Schranken spüren. Es geht eher darum, eine Wahlmöglichkeit als Möglichkeit anzuerkennen und damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Hier affirmiert sich etwas selbst. Wer sich nicht entscheidet, vor allem nicht im Sinne der jeweils betreffenden Werbung, hat nicht nur das Produkt verpasst, sondern auch die Entscheidung, und sich damit an den Nicht-Ort, in die Nicht-Identität befördert. „Etwas verpassen“ – diese Rhetorik sagt: Eine Entscheidung gegen das Produkt wäre eine Entscheidung gegen die Entscheidung. Und damit gegen die Möglichkeit zu entscheiden, frei zu sein und sich zu erfinden. „Eine Wahl ist stets eine Meta-Wahl“2. Die Flucht ins Nichts wäre eine Selbstauslöschung, weil dann das Ich nicht entscheidet und nicht Individualität durch Individualität erzeugen kann3. Und auch weil das zum Ich Passende, also das Ich-konstituierende fehlte, und damit ein Erkennungszeichen. Die Fügung wäre annulliert, käme nicht zustande. Ohne Sollen kein Wollen4.
Entscheidung – an der Wegscheidung hat man sich also getroffen und nicht verpasst. Um nicht jemand anders zu sein als man selbst, muss man also die richtige Entscheidung treffen und sich abpassen. Dass dies auch ein verrammeltes, geschlossenes Konzept von Persönlichkeit bedeutet, versteht sich von selbst. Aber ohne Kategorien keine Passung, keine Abstimmung und keine Produktion von Passendem. Denn stets ziehe ich mir den Schuh von jemand anderem, einer virtuellen Person an, und der muss passen. Und auch ich muss passend sein oder mich passend machen und - anpassen.
1 Davon bin nicht nur ich betroffen/getroffen, sondern auch die Entscheidungen. Kaufentscheidungen werden mit großem Aufwand statistisch erfasst, analysiert und kategorisiert in Hinblick auf Zielgruppen und Images. Welche Gruppe etwas kauft und welches Image ein Produkt hat, kann sich auch ändern.
2 Slavoj Žižek, in: Blasphemische Gedanken, Berlin 2015 S. 32. Und: In diesem Kontext öffnet sich auch die Tür zum politischen Diskurs der Gleichsetzung von Kapitalismus mit Demokratie.
3 Auch die Entscheidung gegen die Entscheidung kann wieder positiv gewendet und in ein Label und eine Gruppe übersetzt werden. Man würde wohl als „KonsumkritikerIn“ bezeichnet. Und bekäme bedruckte T-Shirts angeboten, oder eine passende Zeitschrift, mit der man keine Demo mehr verpasst.
4 Soll heißen: Ohne die Verbindlichkeit des Ziels , die Verbindlichkeit der Entscheidung gibt es auch keine Entscheidung. Keine Entscheidung jener Signifikanz von entweder Passen oder Verpassen. Ohne Ziel kein Weg. Besonders wenn beide in eins fallen (sollen), wie bei kaufen wollen und kaufen sollen.
Kommentar schreiben