Πειθώ. Von Wissenschaft und Schönheit
Der Zusammenhang jener zwei Welten, die wir heute wohl als „Wissen“ und „Schönheit“ bezeichnen, stand den alten Griechen unmittelbar vor Augen. Heute ist diese Verbindung nicht mehr so offensichtlich. Und doch:
Wie soll man jenen Eindruck bezeichnen, der ein Argument gegenüber dem nächsten an Sinn, Überzeugung, Erklärungskraft auszeichnet? Ist es nicht vielleicht das schönere Argument? Wieso findet eine stichhaltige Erklärung Zustimmung und die andere nicht? Ist die Entscheidung nicht oft intuitiv? Und wie wird versucht, Entscheidungen zu beeinflussen? Mit der Kunst der schönen Rede, der Rhetorik.
Die antike Göttin Peithō (Πειθώ) wird meist als „Überredungskunst“ übersetzt, man könnte sie wohl aber auch „Eingängigkeit“ „Überzeugungskraft“ oder vielleicht „Sinnstiftung“ nennen. Oder eben „Rhetorik“. Standardmäßig wird sie auch mit „Überzeugung“ übersetzt. Sie gehört zum bezirzenden Gefolge der Aphrodite (oder ist selbst Aphrodite, oder eine der Chariten), oder auch des Hermes. Sie gehört zwar unbedingt zum erotischen Kontext (z.B. bei Sappho), aber nicht ausschließlich. Beispielsweise kann ein „Mythos“ (auch im Sinne von Plot) bei Platon diese gewinnende Überzeugung –Peithō– entfalten1, möglicherweise aufgrund seiner angenehmen Gestalt vor dem inneren Auge. Andererseits kann auch ein Logos so überzeugen und tut es auch2. Platon stellt deutlich heraus, dass der Begriff der Peithō einer der wissenschaftlichen, ja mathematischen Überzeugung sein kann, z.B. wenn es als rhetorische Frage heißt: „Also auch die Zahlenkunde ist eine Meisterin der Überredung?“3
Nehmen wir „Kunst“ - mittlerweile die ultimative ästhetische Kategorie: Diese Verknüpfung mit Wissenschaft scheint jetzt neuer Trend zu sein und zielt meist in den Bereich der „Innovation“, also der kreativen, schöpfenden und dadurch irgendwie ästhetischen Hervorbringung (Herstellung, Verfertigung) von Mitteln zur Problemlösung4. Bei diesem Kunstbegriff steht das Neue, Überraschende, das „Smarte“, „Schlaue“ als einnehmende Wirkung im Vordergrund – ein Topos der „Entwicklung“ in einer Gesellschaft der Produktion und Produktersinnung. Dies ist eine Verschiebung im Verhältnis zu älteren Kunstauffassungen, bei der Virtuosität, eine „Botschaft“ oder die ständige Neuaushandlung des Abbildungsverhältnisses bestachen.
„Peithō“, als Konzept, hat auch mit „Rat“ zu tun, mit „Folgsamkeit“, „Gehorsam“, „Gewinnung“, „Veranlassung“, „Trauen“ und „Glauben“. Eine Überwindung, die doch verschieden ist von der Überwältigung, die gegen einen Willen durchgesetzt wird. Hier wird der Wille selbst geführt bzw. verführt. Isokrates hat den Einsatz von Macht gegen Barbaren als angemessen bezeichnet, gegenüber Griechen hingegen die Überredung. Diese Unterscheidung lässt sich ethisch verstehen, aber auch pragmatisch, als Bezogen auf die Problematik eines gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Horizontes, der (kunstvolle) Überredung erst ermöglicht5. Und doch: Was ist der Unterschied? Gewalt und schöne Gewalt? Ist dann das wissenschaftliche Argument schöne Gewalt? Wohl eher hätten die Griechen geantwortet, dass die Art Verzauberung durch Schönheit, verbunden mit Vertrauen und Glauben keine hinterlistige Verwandlung in fügsames Gefolge sei, sondern auch ein Gewinn und ein Genuss für die Verzauberten, die sich der Schönheit und Grazie erfreuen können. Bezieht man die Problematik weniger auf intellektuelle und mehr auf sinnliche Verführung begegnen uns im Mythos allerdings auch jene unheilvoll lockenden Gestalten wie die Sirenen, Calypso, Circe oder Pandora, deren Verführen Gewalt und Überwältigung bedeutet. Jedenfalls bezeichnet Peithō beides: Verführung, Schmeicheln, Bezirzen, aber auch überzeugen mit Rede, Logos, Rhetorik.

Verführung ist im Übrigen ein wichtiges Schlagwort moderner Konsumkritik. Talal Asad nennt Verführung „in liberalen Gesellschaften eine Schlüsselkomponente der Kommerzialisierung“6. „Zu verführen heißt, jemanden dazu zu verleiten, sein innerstes Selbst für die Bilder, Klänge und Worte des Verführers zu öffnen und den so – mit oder ohne sein Zutun oder Wissen – Verführten an ein Ziel zu führen, dass das des Verführers ist.“7 Das lässt sich leicht nicht nur auf Religion anwenden, wie Žižek bemerkt, sondern auch auf Rhetorik und Überzeugung. Spätestens seit Kuhn ist bekannt, wie sehr die Entstehung und Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis („Wahrheit“) ein Ergebnis von Vorgängen der Überzeugung, Verbreitung und des erfolgreichen Wettbewerbs von Lehrmeinungen, Modellen, Paradigmata ist. Auch eine wissenschaftliche Anhängerschaft, vielleicht in Teilen angezogen vom Charisma eines weisen Lehrers und Meisters muss sich zunächst formieren und durch unabweisbare Logik und Evidenz betört sein, ehe sie Partei ergreift. Dass Evidenz eine Frage der Interpretation und damit Passgenauigkeit in ein harmonisch-kohärentes Weltbild, und auch Logik über weite Strecken eine voraussetzungsreiche Wahlentscheidung ist, scheint uns offensichtlich für die Zeiten der Antike, Scholastik oder Renaissance, ist aber auch heute noch von Bedeutung. Selbst für Husserl ist das konstituierende Moment der Logik (Objektivität) die Evidenz.
Der gewinnende und überzeugende Liebreiz, den Peithō in Form einer Halskette der Pandora verleiht8, macht dieselbe unwiderstehlich und ist somit auch Schlüssel zum Übel, das Pandora auf die Welt loslässt. In diesem Mythos geht es scheinbar um Wirkung statt um Wirklichkeit. Peithō schmückt Pandora und macht sie so liebreizend. Ist Wirkung dann das, was Wirklichkeit verschleiert oder das, was die Wirklichkeit erst zur Geltung bringt? Und welche Wirklichkeit eigentlich? Eine, deren Brautschleier gelüftet werden kann wie nach einem langen Spiel der erotischen Rhetorik (übermitteln Liebesgedichte Wissen?), der Verzierung, Täuschung, Verführung und Gewalt? Oder ist Schönheit Verhandlungsergebnis, Errungenschaft im sprachlichen Wettstreit ähnlich dem Ergebnis des väterlichen Aushandelns der Heiratsverträge, Trophäe von Geschacher, Berechnung und Altersvorsorge – wirklichen Gütern?
In diesem Kontinuum einer entweder autonomen oder der menschlichen Formulierung bedürftigen ewigen Wahrheit befangen zu sein war das Dilemma der Scholastik, befindet Blumenberg. Gegen die Antithese von Wahrheit und Wirkung spricht er sich aber klar aus. Diese sei
„oberflächlich, denn die rhetorische Wirkung ist nicht die wählbare Alternative zu einer Einsicht, die man auch haben könnte, sondern zu einer Evidenz, die man nicht oder noch nicht, jedenfalls hier und jetzt nicht, haben kann. Dabei ist Rhetorik nicht nur die Technik, solche Wirkung zu erzielen, sondern immer auch, sie durchschaubar zu halten“.9
Es ist übrigens von Bedeutung, dass die Frage nach dem „schöneren“ Argument, die Wahl der Wahrheit, eine junge Angelegenheit, eine moderne Frage ist. Natürlich gibt
es philosophische und sophistische Diskussionen bereits in der Antike und nicht nur in Europa. Sie haben aber dort noch nicht empirische Nachweise als Fluchtpunkt der Diskussion, weil es das
moderne Konzept der Naturwissenschaft so noch nicht gibt. Das heißt, es gibt alle möglichen widerstreitenden Erklärungen, Modelle, Paradigmata. Sie sind
nicht eingebunden in einen Kontext von Experimenten, sondern in ein anderes Verständnis von Evidenz und in das Konzept von Wissenschaft an sich (Descartes). Wenn im wissenschaftlichen Kontext
Metaphern benutzt werden, um Sachverhalte oder Naturgesetze zu beschreiben oder zu erklären, ist ihre Eigenschaft als Metapher, als Hilfsmittel erst in der späten Moderne eindeutig. Fällt das
Objekt oder wird es von der Erde gezogen? Es gilt eine Formulierung zu wählen. Wenn ich behaupte, Elektrizität ist eine Flüssigkeit, ist das etwas anderes, als wenn ich behaupte, Elektrizität ist
wie eine Flüssigkeit. Gottgleich oder gottähnlich. An dieser Stelle der Forschung ist die Unterscheidung nicht sinnvoll, weil ich beide Begriffe in Abhängigkeit voneinander definieren
muss. Die Entscheidung für eine Formulierung beruht auf dem Urteil, dass entweder Strom keine Flüssigkeit sein kann, weil er sich von -Flüssigkeiten- in einigen Punkten signifikant
unterscheidet, oder dass er es ist, weil er wichtige Merkmale mit -Flüssigkeiten- teilt. Welche Merkmale nun wichtig sind oder nicht, wird mit rhetorischen Mitteln diskutiert. Es wird
triumphieren, was der wissenschaftlichen Gemeinschaft als plausibel einleuchtet, was also evident ist. An dieser Stelle ist dann entschieden, ob die Beschreibung überhaupt eine Metapher
war oder nicht.
Ein besser bekanntes Beispiel ist die astronomische Frage nach der Position der Erde und der Sonne. Hier können wir leichter von Ästhetik sprechen, denn es war nichts anderes als Unbehagen, das Kopernikus und seine Zeit lange zögern ließ, die Sonne mit Bestimmtheit ins Zentrum der Welt zu rücken. Freilich war auch das Abrücken vom Ptolemäischen System schwierig, es hatte sich über Jahrhunderte ausreichend bewährt10. Aber gerade darin liegt die Rhetorik und der Bedarf an Überzeugung: Eine Welt, in der die Menschen einen zufälligen und peripheren Platz einnehmen, ein Irgendwo bewohnen, ist nicht nur unpassend, unbefriedigend und kontingent, sie ist auch nicht schön. Eben weil sie keine intuitive Überzeugung mehr erfüllt und affirmiert (die braucht ihre Zeit, um sich umzustellen). Der Kósmos (κόσμος - altgr. „Schmuckstück“) in dem sich die innere Schönheit, der Zusammenhang, die Funktion und Maschinerie der Welt äußerlich als harmonisch und sinnvoll, als schön zeigt, funktioniert so nicht mehr. Er ist zerstört, wenn er nicht mehr schön ist, denn dann ist er nicht mehr erkennbar. Dies ist kein stimmiges Bild, Weltbild mehr. Mit Gewöhnung wird es für spätere Generationen wieder kohärent und eine Abbildung von Ordnung sein. Für den Moment ist es ohne Verlass, ohne Sicherheit, ohne Freude.
So fußt denn ein großer Teil der historischen Wissenschaft auf Annahmen aus dem (heute so genannten) ästhetischen Bereich. Z.B.: Die Kreisbahn als die perfekte, vollendete Bewegung (Platon) muss die Bahn der Planeten sein. Ähnliches will zu Ähnlichem, deswegen gibt es die Schwerkraft, oder dessen ist die Schwerkraft Ausdruck (Aristoteles).
{
Ziemlich bekannt geworden sind die Einlassungen des Amerikanischen Physikers Richard Feynman über den Zusammenhang von Wissenschaft und Ästhetik. In einer kurzen Episode erzählt er vom Gespräch mit einem Künstler, der ihm unterstellt, er wisse die Schönheit der Blume nicht zu schätzen, sie würde öde in der Analyse. Feynman sagt, er könne hingegen viel mehr sehen „about the flower“. Erst Verstehen versetze ihn in die Lage, den Gegenstand auch als ästhetischen wirklich schätzen zu können:
„I can appreciate the beauty of a flower. At the same time, I see much more about the flower than he sees. I could imagine the cells in there, the complicated actions inside, which also have a beauty. I mean it’s not just beauty at this dimension, at one centimeter; there’s also beauty at smaller dimensions, the inner structure, also the processes. The fact that the colors in the flower evolved in order to attract insects to pollinate it is interesting; it means that insects can see the color. It adds a question: does this aesthetic sense also exist in the lower forms? Why is it aesthetic? All kinds of interesting questions which the science knowledge only adds to the excitement, the mystery and the awe of a flower. It only adds. I don’t understand how it subtracts.“
Diese Episode ist freilich besonders bei Naturwissenschaftlern beliebt. Interessant ist das moderne Ästhetikkonzept, es äußert sich zum Beispiel in diesen Punkten:
1. „Schön“ ist hier gleichgesetzt mit „interessant“. Die reine Anschauung ist vielleicht ganz nett, aber nicht interessant. Wichtig und einnehmend ist die Abstraktion und deren Wirkung auf einer Ebene, die keine der Wahrnehmung ist, sondern der Begrifflichkeit.
Denn 2. geht es nicht um das, was sichtbar ist, sondern was vorgestellt wird. Feynman sieht keine Zellen und keine Zellprozesse, keine Evolution und keine Farbwahrnehmung von Insekten. Er „sieht“, was in seinem Kopf ist.
3. Ging es für viele christliche Jahrhunderte miteinander einher, etwas zu schätzen und zu ehren, obwohl es unverständlich ist. Nicht nur Gott oder das göttliche Wort, sondern auch Gott als die Welt und als Schöpfung. Sogar „Credo quia absurdum est“ konnte ein Ausruf der Gewissheit sein. Vielleicht ist dies der Unterschied zwischen der Schönheit der Peitho, welche spricht und vermittelt, und der Schönheit als reine Kontemplation. Feynmans Mikrowelt ist Freude an Anschauung eines Wissens, das auf andere Weise Wissen ist als früher.
Denn natürlich haben 4. auch z.B. mittelalterliche Menschen die Welt verstanden. Sie haben ihre Umwelt erklären können, obwohl bzw. weil die Erklärung
meistens mit „Gott“ endete. Das mag für uns heute unbefriedigend sein, aber unsere Sicht ist möglicherweise nicht weniger komplex als Scholastik und Theologie. Im Stile von „I see his blood
upon the rose“11 drängen sich auch in anderen
Kontexten, besonders des religiösen Weltverstehens12, unzählige Assoziationen und sogar Fragen auf. Insofern ist diese Betrachtungsweise auch wieder uralt und nicht spezifisch wissenschaftlich. Und
schließlich ist selbst für Feynman die Rose „a mystery“.
Freilich wendete sich der Physiker mit seiner Anekdote spezifisch gegen den Vorwurf, ein analytischer Blick würde ästhetisches Erfahren unmöglich machen oder zerstören. Ein Vorwurf, der genauso der Kunstkritik, z.B. der musikalischen oder literarischen Analyse gemacht wird. Und dem dort wahrscheinlich in selber Manier widersprochen wird.
Verstehen als ästhetisches Erlebnis reicht thematisch zurück bis zu Texten der Offenbarungen, Apokalypsen und Prophezeiungen. Propheten wie Johannes werden „vom Geist ergriffen“ um „Zeugnis abzulegen“. Johannes beschreibt Zeichen und Allegorien, Symbole um Symbole, eines nach dem anderen. Er liest Zeichen (vor) in einem fort wie eine Formel. Er bzw. wir können sie vielleicht nicht alle ganz entziffern, aber er gibt auf das Lebhafteste den starken Eindruck wieder, den sie auf ihn machen, die ihn überzeugen und zum Zeugen berufen. Dieses Zeugnis legt der Prophet ab, in einem Text, der unbedingt – überzeugen soll. Dies zu erreichen ist wiederum eine Frage der Rhetorik. Denn reine „Wiedergabe“ gibt es nicht. Der Seher ist Künstler, schon in seinem Sehen. Mehr noch in seinem Sehen für andere, oder im Sehen der Anderen durch ihn. Doch die Sicht ist das Wort (in diesem Fall auch das gesehene), welches der Handhabung bedarf. Hier zeigt sich wieder das von Blumenberg formulierte Dilemma, das vielleicht einen Hinweis auf den seltsam knappen und doch fesselnden Sprachstil der Offenbarung gibt.
Was offenbart die Blume dem Leser der Natur, dem Wissenschaftler? Müsste er nicht die Botschaft lesen? Müsste er nicht die Autorschaft und Autorität Gottes in der Blume erkennen? Dessen Kunst und Kreation? Tatsächlich wurde Naturforschung lange auf diese Art verstanden. Campanella hat noch versucht, auf diese Art Galilei zu verteidigen: Dessen Erkenntnisse als Bestätigung der göttlichen Schöpfungslehre. Doch der Sinn, die Teleologie, Geburtshelferin der ersten Fragen an die Materie, z.B. bei Aristoteles, ist keine wissenschaftliche Kategorie mehr. Stattdessen leistet die Naturwissenschaft reine Betrachtung (das Fragen bleibt dabei ein selbstbezogenes Perpetuum). Eigentlich eine künstlerische Position. Es gibt nur keinen Künstler, keinen Autor und keine Kuratorin13. Auch die Vermittlung, Formulierung von Natürlichem, wie durch den Künstler oder Propheten läuft hier deswegen ins Leere. Was vermittelt wird, ist nicht die Schönheit oder Botschaft in der Natur, im Erscheinen - sondern die Natur selbst. Der Wissenschaftler liest nicht14. Keine Bedeutung, kein Zweck, keine Rhetorik des Universums ist zwischengeschaltet, die Blume heißt und artikuliert nichts, sondern ist identisch mit ihrem Aufbau, ihren Funktionen und Prozessen.
Sartre hat in diesem Zusammenhang Kants Ausdruck „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ kritisiert, mit
dem dieser das Schöne formal zu fassen gesucht hatte:
„Es gäbe eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck, wenn irgendein Gegenstand einen so regelmäßigen Aufbau hätte, dass er dazu aufforderte, ihm einen Zweck zu unterstellen, obwohl wir ihm gerade keinen zuschreiben könnten. Durch eine solche Definition des Schönen wird man - und genau das ist Kants Ziel - die Schönheit der Kunst mit der Naturschönheit gleichsetzen können, weil zum Beispiel eine Blume so viel Symmetrie, so harmonische Farben, so regelmäßige Wölbungen aufweist, dass man unmittelbar versucht ist, eine finalistische Erklärung für all diese Eigenschaften zu suchen[...].“ 14a
Sartre sagt, das Kunstwerk kann keinen Zweck haben, weil es selbst ein Zweck ist. Doch beides verlangt einen Autor oder Demiurgen. Die Blume gibt durch ihr Äußeres nur bewusste Gestaltung vor (aber das ist es, was Feynman fasziniert). Während die Scholastik also Zweck und Grund in der Natur(schönheit) sehen konnte (Gott als Künstler), wie auch in einem gefertigten Kuntswerk, sah Kant dies in beiden nicht, oder nur vorgeblich und scheinbar. Sartre erkennt einen Zweck und eine Autorschaft nur im Kunstwerk. Als neuzeitlich-naturwissenschaftliche Auffassung von Kausalität und Wechselwirkung sieht Feynman „Zwecke“ in der Naturschönheit: Die Notwendigkeiten eines funktionalen Aufbaus. Deshalb hat die Schönheit der Blume für ihn „Bedeutung“ - denn er „sieht“ (erkennt) Zweck-Prozesse und hat damit einen ästhetischen Mehrwert.
Aus der Perspektive wissenschaftlicher Begeisterung lässt sich der Schönheitsbegriff des Künstlers jedenfalls nicht handhaben. Denn interessante Fragen stellen sich selbstverständlich zu jedem Objekt und seiner Einbettung in Prozesse der Natur. Feynmans Begeisterung muss deswegen genauso für einen Kuhfladen gelten wie für eine Blume. Ich glaube auch, dass sie dies tut. Doch wenn überall „Schönheit“, d.h. „Interessantes“ ist, ist sie nirgends. Der Begriff wird obsolet. Die Kunst, die (traditionell) Schönheit schätzt und offenbart (veröffentlicht), macht diesen Unterschied durchaus. Dies hauptsächlich dadurch, dass sie existiert.
{
Es ist natürlich auch möglich, sich der schönen Peithō als moralische Kraft zu bedienen. Platon skizziert das im zweiten Buch der Nomoi: Im Zuge der Debatte um die beste Gesellschafts- und Staatsordnung gelangt das Gespräch zum Thema der Tugenden, also natürlich auch der Erziehung und des Vergnügens. Stringent platonisch ist bald geklärt, dass ein unsittliches Leben kein angenehmes und schönes sein kann, sondern nur Gerechtigkeit auch zu Glück verhelfe.
„Somit ist denn die Ansicht, welche Angenehmes und Gerechtes, Gutes und Schönes nicht trennt, wenn zu nichts anderem, so doch dazu gut um einen starken Beweggrund zu dem Entschlusse herzugeben, ein frommes und gerechtes Leben zu führen“15.
In der Frage nun, wie der Gesetzgeber verfahren muss, um eine sittliche Erziehung der Gesellschaft zu erreichen, argumentiert Platon ähnlich wie in der Politeia. Dort hatte er einen falschen Mythos für ethisch vertretbar gehalten, den man erzählen und kultivieren sollte, um die Menschen in rechte Bahnen zu lenken. Auch in den Nomoi heißt es:
„Schön ist die Wahrheit, Freund, und unumstößlich, doch scheint es nicht leicht, von ihr zu überzeugen.“16
Die Gesetzgeber stehen vor dem Dilemma, die Jugend zu gerechtem Handeln bringen zu wollen, ohne sie zu zwingen. Zu diesem Zwecke sei es legitim „nicht alle Wahrheit gegen die Jünglinge auszusprechen“17. Wichtig sei für die Gesetzgeber ausschließlich, was sie zum Wohle des Staates die Leute glauben machen müssen. Eine Episode des Medea-Mythos' dient hier als Beispiel, dass die Leute alles Mögliche glauben, es könne also nicht so schwer sein.
Mit Musik, Tanz und Gesang soll die graue Ethik zum Leben erweckt werden und die Mitglieder der Gesellschaft bezaubern. Wichtig ist, dass hier kein Betrug begangen wird. Alle Diskussionsteilnehmer im Dialog sind von der höheren Qualität eines gerechten Lebens überzeugt. Aber um diese schwere Materie zu vermitteln, heiligt der Zweck die Mittel. Die Botschaft wird nicht verdreht aber mit Schönheit erfüllt, auf dass sie eine sinnliche, ästhetische, schöne Peithō entfalten kann. Der Athener fordert, dass
„jeder, Erwachsener und Kind, Freier und Sklave, Frau und Mann, ja die ganze Stadt für die ganze Stadt, sie selbst für sich selbst, niemals aufhören dürfe, das, was wir besprochen haben, in Zaubergesängen darzustellen, in irgendwie immer neuer Gestaltung und gänzlich mit Buntheit versehen, so dass daraus für die Sänger eine Art von Unersättlichkeit und Lust auf Hymnen erwächst.“18
Das gelehrte und moralische Wissen der Staatslenker bedarf also einer sinnlich-einnehmenden Komponente um eine „psychagogische Wirkung“19 zu entfalten. Das Wissen, der ethische Logos bleibt jedoch, was er ist, trotz seiner Vermittlung durch eine genussvolle Peithō.
Die zweite Dimension dieser Stelle ist das Wissen von (oder die Kunst) der Peithō. Es geht nicht nur um die Schönheit als Eigenschaft der Wissensvermittlung, sondern auch um das Wissen von der Schönheit. Nur durch ihr Wissen davon, wie man die Jugend auf richtige Bahnen lenkt, auch dank „bezaubernder“ Mittel, haben die Anführer die pädagogische Kompetenz, den Staat zu lenken und sein Fortbestehen als sittliche Gesellschaft zu sichern. Die Weisen, die die Gesellschaft führen, müssen auf die Verbreitung der richtigen Vergnügen achten. Wie in der Politeia“20 ist es nämlich nicht gleichgültig, welche Art von Kunst, Gesang und Musik als Vehikel sittlicher Erziehung dient“21. Hier zeigt sich wieder, dass es bei Platon ein Wissen von der Schönheit gibt, das eng verbunden ist mit moralischer Einsicht und sonstiger Bildung. Die Kunst muss im Wettstreit beurteilt werden, aber nicht von der Allgemeinheit.
„...jene Muse werde die schönste sein, welche die Edelsten und Gebildetsten erfreut und vor allem den, welcher an Tugend und Bildung über alle hervorragt.“22
Dies hat auch gleich noch die pädagogische Wirkung, dem Volk guten Geschmack beizubringen, also die edelste Kunst zu loben, anstatt die Vorliebe der Meisten. Fähigkeit zur Kunstkritik und zum Genuss des Schönen geht also bei Platon mit Einsicht, Weisheit, Wissen und Tugend einher.
{
Schönheit und Wissen hängen aber auch auf andere Weise zusammen. Nicht nur, dass Schönheit Wissen vermittelt oder legitimiert, es gibt auch Wissen von der Schönheit und Wissen als Schönheit. Nämlich dann, wenn man über das Wissen oder Können verfügt, Schönes zu schaffen oder zu bewirken. Das wird meist als künstlerisches oder handwerkliches Können bezeichnet. Und bei diesem Kunst/Können ist die Unterscheidung zwischen Handwerk und Kunst schwer zu vollziehen. Dabei besteht sowohl ein Bezug zum Gegenstand bzw. Produkt (s.u.), als auch zur Kompetenz, also dem Vermögen, und das ist sowohl ein Wissen, als auch ein Ausüben auf der Grundlage dieses Wissens. Die freien Künste, die heute noch als „liberal arts“ eine spezielle Stellung im Bildungskonzept der USA haben, waren nicht nur Fähigkeit zum Ausüben von Grammatik, Arithmetik, Musik oder auch Rhetorik, also Mittel zum Zweck, sondern als Kunst auch durchaus Selbstzweck und/weil schön. Sie stellten den Luxus des freien Mannes dar, der sich mit Dingen befassen konnte, die nicht zum Broterwerb notwendig waren.

Auch die Begriffe „Kunst“ und „Handwerk“ werden heute meist auseinandergehalten. Für das Handwerk wird der Aspekt der Produktion betont, für Kunst der Gegensatz zu Arbeit und Alltag, ähnlich den Freien Künsten, die heute in die Sparte der Wissenschaft fallen. Eigentlich schließt künstlerische Tätigkeit das Wissen um Art und Mittel der Gestaltung ein, (ein handwerkliches Wissen). Geht es jedoch um den Gegenstand, das Geschöpfte der Kunst, die Kunst, bewegen wir uns nicht nur in Richtung künstlerischer Autonomie- und Inspirationskonzepte, sondern müssen auch den Unterschied zum Handwerk in den Blick nehmen. Platon hat das deutlich getan. Für Platon schloss das handwerkliche Wissen – das Wissen um die Funktion – sogar eine Nähe zum Wissen um die Idee der Sache mit ein, weswegen das Handwerk nicht Kopien und Abbilder erzeugt, wie es die Kunst tut23. Dass Äußerlichkeit/Ästhetik damit Trug, Schein und Verführung bedeuten können, gehörte aber erst später zum Vorrat der allgemeinen Kunstauffassungen:
„Die naturwissenschaftliche Idee, dass die Natur gleichsam ein mathematisch lesbares Buch sei, wurde von den Künstlern von der Renaissance bis weit in die Aufklärung hinein so ausgelegt, dass die Natur als ganze und alle natürlichen Dinge im einzelnen vollkommen von Regelmäßigkeit, von Proportion, Harmonie und Symmetrie durchgestaltet, d.h. schön seien. Dass die empirische Wirklichkeit diese hohe Erwartung an die Natur nicht erfüllt, ist aber eine Erfahrung, die vom 18. bis ins 20. Jahrhundert immer häufiger beschrieben und als die umfassendere und richtigere Wirklichkeitsbeschreibung empfunden wurde, so dass die alte Überzeugung jetzt als eine metaphysische Illusion erschien, ja als eine Täuschung, die den Menschen in den Glauben an eine Vollkommenheit der Wirklichkeit einlullte, die sich kritisch nicht verifizieren ließ.“24
Während also die frühe Wissenschaft in der genauen Beschreibung und Abbildung einen Zugang zur Erkenntnis des Gegenstands suchte25, liegt sie noch bei Platon in seiner Spezifität und Funktion. Das Nicht-Sichtbare macht ihn erst (als ihn selbst) sichtbar, erkennbar, identifizierbar. Damit steht für Platon das Handwerk der Wissenschaft (Episteme/Erkenntnis) näher als die Kunst, die ja abbildet. Auch heute haben wir gelernt, Funktion und Anschein ständig auseinanderzuhalten. Ist das Information oder Werbung? Was zeigt eine Photographie und was nicht? Ist das am Ende so lecker, wie es auf der Packung aussieht? Lasse ich mich von der Peithō der Werbung verführen und ist dies meine autonome Entscheidung? Blumenberg verweist auf die Rhetorik als Form- und Sinngebung, als Kunst und Künstlichkeit, die in unserer Welt allgegenwärtig ist:
„Rhetorik ist deshalb eine Kunst, weil sie ein Inbegriff von Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit ist und Wirklichkeit in unserer Tradition primär als „Natur“ vorverstanden war. In einer hochgradig artifiziellen Umweltwirklichkeit ist von Rhetorik so wenig wahrzunehmen, weil sie schon allgegenwärtig ist.“26
So gesehen wäre Kultur an sich Rhetorik. Doch es geht auch spezifischer: Stets fragen wir heute: Welche Intention steht eigentlich hinter dem Bild, der Veranstaltung, der Lancierung bestimmter Informationen und Nachrichten, also was ist der eigentliche Zweck? Misstrauen ist angebracht, erlernt und gehört als zwingende Medienkompetenz in unsere Zeit. Baudrillard ging im Übrigen so weit zu sagen, unsere moderne Welt bestehe nur noch aus Schein und Kopien (das, was Platon an der Kunst kritisierte), das Original sei in unserer Zeit ausgestorben.27
Von Werbung (die ja vorgibt, Information zu sein) und von Platon ausgehend, können wir dem also nicht zustimmen, Peithō bringe nur zum Strahlen, was in den Dingen längst als Potential, als Dynamis schlummere. In der Werbung wird schlicht gelogen und Platon war ein Anti-Sophist für den die Dinge selbst ihre Überzeugungskraft haben mussten. Peithō will überzeugen, aber verführt auch durchs Zeigen. Sie legt vielleicht Zeugnis ab oder erzeugt nur das Dienliche und Angenehme. Sprechen wir hier schon wieder von Kunst? Für Platon gab es eine „alte Feindschaft zwischen Dichtern und Philosophen“ oder „ein alter Streit zwischen der Philosophie und Dichtkunst“ (Politeia 607b). Und doch kann eine Dichtung/ ein Mythos ein Mittel der Erkenntnis/ Episteme sein, wie Platon nicht nur andeutet, sondern als mythendichtender und -lehrender Autor auch selbst zeigt.
Andererseits bringen die Handwerker durch ihr Werk die Idee (weitgehend) ans Tageslicht, zeigen die Idee durch ihr Wissen um sie und den Einblick in ihr Sollen. Jedes Objekt ein kleiner Kósmos, ein tatsächliches Kleinod, an dem sich äußerlich die Idee hinter (oder über?) ihm zeigt. So machen Handwerker den Tisch und das Bett. Und Peithō? Macht sie nicht Pandora liebreizend?
Wenn Peithō die platonische Handwerkerin ist, ein δημιουργός, was ist ihr Werk? Pandora ist nicht das Werk der Peithō. Sie war vorher Pandora und ist es hinterher. Was bringt Peithō jedoch in die Welt, welche Idee durchschaut sie in ihrer und als Funktion, sodass sie sie erkennbar machen kann? - Das ist die Schönheit, der Liebreiz. Und in der Tat setzt sie Schönheit als Funktion, als Werkzeug ein als etwas, das wirkt, anstatt als bloße Anschauung. Diese Wirkung ist die Überzeugung, die Verführung, das Folgen des Weges dessen, was selbst Begründung ist. Man mag es schön nennen oder plausibel.
Worauf Platon Gewicht legte, war, dass der Zugang zur Idee einer Sache nicht visueller Natur sein kann. Deswegen ist die Kunst ein Irrweg. Die Funktion, die die Handwerker kennen und durch Herstellung ermöglichen, lässt sich nicht sehen, sondern nur verstehen. Nun wird auf ganz ähnliche Weise Peithō „Überzeugung” genannt, ihrer Redekunst muss man geistig folgen können. Aber ist sie nicht auch Verführung durch äußeren Schein? Zwar legte Peithō der Pandora eine Halskette um und das ist zunächst keine Frage des Verstehens. Aber auch diese Kette ist ein Schmuck, eine Art Kósmos. Peithō betreibt also Kosmetik, aber nicht im Sinne oberflächlicher Verbrämung. Interessanterweise verwirklicht sich in Pandoras Liebreiz der Wille der Götter, die den Kosmos beherrschen. Pandora selbst, die künstliche und erfundene Frau ist der Götter Werk, ist selbst ein geschmiedetes Schmuckstück. Man könnte vielleicht sagen, Pandoras „Funktion“, ihre Bestimmung und Identität als Werkzeug der Götter, ist denjenigen klar, die ihre Geschichte und ihre Mission kennen und verstehen. Z.B. denen, die dem Mythos der Pandora lauschen. Wer nicht versteht, sieht nur eine Gestalt von göttlicher Schönheit und hat sich wiederum vom Schein blenden lassen. Gerade dies war Zweck ihrer herrlichen Ausstattung. Und vielleicht lässt sich an diesem Beispiel der Doppelcharakter von Rhetorik und Sophistik erschließen, die täuschen kann durch „schöne Worte“ oder auch zu Einsicht führen und damit überzeugen. Dafür steht Peithō ebenso Pate bei Politik und Philosophie, wie beim Liebeswerben, ihrem wohl ursprünglichsten Bezirk.

{{{
Zum Schluss noch die Frage: Muss Peithō schön sein?27a Auch für Platon gehörten noch das Schöne, das Wahre und das Gute unbedingt zusammen. Das ist heute schon lange nicht mehr so. Max Weber kann 1919 schreiben: „und eine Alltagsweisheit ist es, dass etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist.“28 Er beruft sich dabei auf die Bibel (Jesaja 53, Psalm 21), Nietzsche und Baudelaire. Kann es da noch eine Peithō geben? Oder ist dies das Ideal der grausamen, eiskalten Wahrheit, unverbrämt, unsophistisch, unangenehm aber wahr, wie die großen Kränkungen, die die Wissenschaft der Menschheit zumutete? Natürlich gibt es auch diese Peithō, eine des Tremendums, der gruseligen Faszination, die in den Bann schlägt wie ein Thriller29. Auf eine Weise könnte man auch dies schön, im Sinne von reizvoll und faszinierend nennen. Auch wieder ein Habitus der Wissenschaft: Die Wahrheit hinter der Erscheinung zu entdecken. Auch wieder ein Reiz: Den Schleier hinwegzuziehen und wie der platonische Demiurg die reine Funktion zu schauen. In der Moderne gibt es dafür das Bild der Maschine.

Die Peithō der Evidenz und des Logos, auch sie schon bei Platon angelegt, wird heute wohl nicht mehr als schön bezeichnet werden können. Auch nicht das, was sie zeigt. So hat Weber unser Wissenschaftsverständnis prägnant erfasst. Und beansprucht die Wissenschaft nicht sogar das Mittel der „zwingenden“ Logik, das Monopol auf Wahrheit? Fehlt da nicht jeder Verhandlungsspielraum? Ist Peithō statt Aufklärung Verklärung, ewig antik?
Peithō ist vielleicht nicht immer schön, aber sie hat die sanfte Kraft der Vereinnahmung, wie die Schönheit. Ein logisches Argument oder eine bittere Wahrheit hat nicht unbedingt „Charme“. Doch Peithō zieht uns auf ihre Seite, mag es auch durch Logik oder Evidenz sein. Bei ihr geht es nicht um Kampf und Auslöschung, sondern um ein Verbinden, vielleicht sogar ein Begehren. Ohne den Wunsch nach Schönheit, Liebe oder Wahrheit, kann es keine Peithō geben. Und ohne Peithō kein Wissen und keine Wissenschaft.
{{{
Als Epilog einige abstrakte Perspektiven:
Tritt man sehr weit zurück, wird der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Schönheit banal und unspezifisch, denn kein Wissen ist vorraussetzungslos und es muss sich immer in einen Sinnzusammenhang einfügen. Dieser lässt sich zwar nicht ohne weiteres als „schön“ bezeichnen und damit alles Sinnlose, Chaotische oder Unverständliche als „unschön“ disqualifizieren. Doch die Wahl des Plausiblen unter Verschiedenem ist durchaus eine Wahl nach Gusto, besonders am Fundament von Wissenschaft. Dinge scheinen sinnvoll, Äquivalenzen werden nach Äußerlichkeiten gewählt. Der Kosmos, der Schmuck, wird nach Gutdünken, nach Wohlgefallen zusammengefügt – vielleicht eine künstlerische Aufgabe. Auf dass es passe. Funktionieren kann viel, aber es muss überzeugen, evident sein. Und die zentralen Kategorien des Denkens sind doch die gleichen wie die der Kunstkritik und -produktion: Kohärenz, Form, Maß und Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit (z.B. Symmetrie) und natürlich Wohlgefallen/Annehmbarkeit bzw. Plausibilität als Gefühl insgesamt30.
Zweitens ist Wissen nicht nur nie ohne vorbereiteten Kontext, sondern auch nie ohne Kommunikation möglich. Wissen etabliert sich nur durch Bestätigung, und zwar Bestätigung durch andere Personen. Kommunikation ist – das wissen wir mittlerweile – nicht nur pragmatisches Mittel, sondern auch Zweck und Vergnügen. Flusser nennt Kommunikation übrigens einen „Kunstgriff“ gegen Sinnlosigkeit und Tod31. Wissenschaft als soziale Unternehmung stellt „Schönheit“ in Form von Weltbildern, Verlässlichkeit, Prognosen und ordnender Autorität her, auch für und mit der Gemeinschaft als sozial festigende Verständigungsgrundlage. Wie fundamental diese sind, lässt sich am Unbehagen angesichts wissenschaftlicher Paradigmenwechsel beobachten.
Drittens ist Wissenschaft Selbstzweck. Sie ist es, weil der Mensch nach Wissen strebt und neugierig ist32. Deswegen forschen wir und auch deswegen bezahlen wir als Gesellschaft die Forschung. Forschung ist für das Individuum keine ökonomische Notwendigkeit (wie auch Kunst), ihr Antrieb ist Leidenschaft und Begeisterung und sie fordert Hingabe. Auch heute noch wird Wissenschaft wohl meist aus diesen Gründen betrieben, besonders das berufliche Himmelfahrtskommando Geisteswissenschaften.
Wer einen kurzen Aufsatz über Wissenschaft und Schönheit schreiben möchte, gelangt zu der Erkenntnis, dass im Zuge der Untersuchung Schönheit immer wieder mit Kunst gleichgesetzt wird. Dazu trägt auch die bessere sozial- und geistesgeschichtliche Handhabbarkeit des Kunstbegriffs bei. Aber selbstverständlich ließe sich auch mehr über Wissenschaft als ästhetische Erfahrung sprechen, über Geometrie, Symmetrie, Darstellung von z.B. fraktalen Gleichungen, Fibonacci-Strukturen und dergleichen. Noch öfter findet sich die ästhetisch-kognitive, also gleichzeitig persönlich-emotionale Erfahrung. Z.B. im Sternenhimmel, dem Anblick der Erde von der Raumstation aus, im Augenblick der Erkenntnis als Vorstoß und Reise in Wissensgebiete, in die noch niemand vorgedrungen ist, als Faszinosum, Entdeckung, berührende Erfahrung und als Verlockung der Macht. Auch dieses Fernweh nach Unbewusstem und Unerkanntem hat eine Peithō, einen Reiz, eine Verführungskraft und eine Motivation, die einem unerklärlichen Zauber gleichkommt.
1 Nomoi 903b.
2 Pietsch schließt das aus einer Peithō trotz fehlender Mythen in den ersten Gedankenschritten der Nomoi. Vgl. Chr. Pietsch: Mythos als konkretisierter Logos, in: Janka/Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe S. 162.
3 „πειθοῦς ἄρα δημιουργός ἐστιν καὶ ἡ ἀριθμητική“ Gorgias 453e. Wobei „Meisterin“ hier vor allem den Sinn einer „Ausüberin“ hat. Platon geht es hier darum, zu zeigen, dass Überredung nicht Gegenstand und definitiv für die Rhetorik sein kann, da andere Künste/ Wissenschaften auch überzeugen. So heißt es weiter: „Und auch von allen andern eben angeführten Künsten (τέχνας) werden wir zeigen können, dass sie Meisterinnen der Überredung (πειθοῦς δημιουργοὺς ) sind“. Gorgias 454a.
4 Siehe z.B. http://www.tagesschau.de/inland/ausstellung-153.html oder die Monographie „Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience" von I. Reichle.
5 Vgl. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik S. 111.
6 Zitiert nach Žižek „Blasphemische Gedanken“ S. 27.
7 Žižek ebd. S. 28.
8 Hesiod: Werke und Tage, Peithō dort mit dem Titel der πότνια.
9 Blumenberg S. 111f. H.i.O.
Kopernikus, Galilei, Kepler, 1683.
10 Vgl. auch Thomas Kuhn: The Copernican Revolution.
11
I see his blood upon the rose
And in the stars the glory of his eyes,
His body gleams amid eternal snows,
His tears fall from the skies.
I see his face in every flower;
The thunder and the singing of the birds
Are but his voice-and carven by his power
Rocks are his written words.
All pathways by his feet are worn,
His strong heart stirs the ever-beating sea,
His crown of thorns is twined with every thorn,
His cross is every tree.
Joseph Mary Plunkett 1917
12 „Und so ist niemand, dem die Werke Gottes nicht wunderbar erscheinen, auch wenn der Törichte in ihnen nur die äußere Gestalt bestaunt, während der Weise an dem, was er von außen sieht, den tiefen Gedanken der göttlichen Weisheit erwägt, so als wenn an ein und demselben Buch der eine die Farbe und Gestalt der Schriftzeichen hervorhebt, während der andere deren Sinn und Bedeutung lobt.“ Hugo von St. Viktor (12. Jhd.), zitiert nach Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 52f.
Koyré schreibt: „Indeed Kepler, a devout though somewhat heretical Christian, sees in the world an expression of God, symbolizing the Trinity and embodying in its structure a mathematical order and harmony." Alexandre Koyré: From the Closed World to the Infinite Universe, S. 58.
13 Leerstellen, die metaphorisch oft gefüllt werden mit „Mutter Natur“, „Mutter Erde“, dem „Universum“ u.ä.
14 Er liest zwar die Sprache der Mathematik im Buch der Natur, wie es Galilei formulierte. Doch der Bezug auf die biblische Lehre, wie ihn Campanella unternahm, kann heute so nicht mehr funktionieren.
14a Jean-Paul Sartre: Warum Schreiben?, in: Texte zur Theorie der Autorschaft S. 111.
15 Nomoi 663a. „πείθεσθαι“ für „Beweggrund hergeben“.
16 Nomoi 663e. „πείθειν“ als „überzeugen“.
17 Ebd. 663d.
18 Ebd. 665c. Eingeübt werden geradezu „Zaubergesänge für die Seele“ (659e).
19 Pietsch S. 167.
20 Z.B. Politeia 398d ff.
21 Z.B. Nomoi 657ff.
22 Nomoi 658e-659a.
23 Politeia 597b-e.
24 Arbogast Schmitt: Mythos bei Platon; in: Brandt/Schmidt: Mythos und Mythologie S. 67.
25 Ebd. S. 66. „Dokumentation“, „Empirie“, „exakte Beobachtung“ etc. in der Renaissance.
26 Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik S. 132f.
27 Eine Position, die mit der Flussers Ähnlichkeit hat. Die Zuordnung von Schein und Wahrheit zu je Kunst und Wissenschaft löse sich in der Moderne genauso auf, wie die Differenz von Subjekt und Objekt oder von Akt und Potenz: „Das Abenteuer der Menschwerdung ist mit uns in eine neue Phase getreten. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass wir keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Schein oder zwischen Wissenschaft und Kunst machen können. Nichts ist uns 'gegeben' außer zu verwirklichende Möglichkeiten, die eben 'noch nichts' sind. [...] Wenn man erkennt, dass die Wissenschaft eine Art Kunst ist, dann hat man sie dadurch nicht entwürdigt, denn sie ist dadurch ganz im Gegenteil zu einem Paradigma für alle übrigen Künste geworden. Es wird deutlich, dass alle Kunstformen erst dann tatsächlich wirklich werden, also Wirklichkeit herstellen, wenn sie eine Empirie abstreifen und die in der Wissenschaft erreichte theoretische Exaktheit erreichen.“ Womit wir wieder bei Platon wären. Und weiter: „Das Wort 'Schein' hat dieselbe Wurzel wie das Wort 'schön' und wird in Zukunft ausschlaggebend werden.“ Lob der Oberflächlichkeit S. 284.
27a Es gibt eine alte und wirkmächtige Geistestradition der Gleichsetzung von Schönheit und Wahrheit, besonders in der griechischen Antike. Oft wird diese Verbindung mit dem Konzept der Harmonie zusammengebracht, welche bereits zu Systematik und Kohärenz überleitet. Pointiert wird das z.B. bei Shaftesbury zusammengefasst - „all beauty is truth“. So deutete sich bereits das spätere romantische Ästhetikverständnis an.
28 Max Weber: Wissenschaft als Beruf.
29 Ob das Böse Blumen bringt, die dunkle Seite Kekse bäckt oder Sektenführer die Wahrheit über das Weltende kennen - das Dunkle, Böse, Andere und seine mögliche, vielleicht zu erforschende oder zu erfahrende Wahrheit hat auch immer seinen (ästhetischen) Reiz.
30 Es gibt Untersuchungen aus der Mathematik, die dies experimentell zeigen sollen: Vgl. http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-9154-2008-11-24.html oder https://en.wikipedia.org/wiki/Philosophy_of_mathematics#Aesthetics. Auch die Psychologie verfolgt den ,Reiz" des Schönen als Hinweis auf die korrekte Lösung in der Mathematik.
Vgl. Reber/Brun/Mitterndorfer: The use of heuristics in intuitive
mathematical judgment. Psychonomic Bulletin & Review, 15. Andere sehen genau hier das große Problem: https://www.youtube.com/watch?v=99hVAu1k6G8.
31 Kommunikologie S. 10.
32 Eng verbunden ist dieser Topos mit dem visionären Ideal der sich entwickelnden und höher strebenden Menschheit, die Wissen und Weisheit gewinnt. Die Vision, dass beides zusammenhängt und mit dem menschlichen Wissen das Verantwortungsbewusstsein und die ethische Kompetenz der Menschheit rapide wächst, hatte z.B. Gene Roddenbury mit Star Trek.
Kommentar schreiben