„Die künftige Literatur wird nicht mehr gesprochene Sprache, sondern [...] „Ideen“ notieren.“
Flusser, Aufschreiben
In der öffentlichen Sprache hat sich die Nutzung weiblicher grammatischer Formen weitgehend etabliert. Das ist natürlich auch von der politischen Orientierung abhängig. Die Linkspartei ist da beispielsweise recht konsequent, die CSU weniger. Im gedruckten Journalismus, wo es um das Verkaufen bequem und gewohnt leserlicher Artikel geht, wird gendergerechte Sprache nicht sehr häufig angewandt, in Studien und wissenschaftlichen Beiträgen (sofern es nicht Gender Studies sind) kommt meist das Sternchen*.
Dass dieser Sternchensatz völlig am Sinn gendergerechter Sprache vorbei geht, scheint nicht so offensichtlich zu sein. Natürlich sind beide Geschlechter gemeint. Das ist ja das Übel. Es geht um die Nennung, ums Explizitmachen, ums Vermeiden des Unter-ferner-liefen als sprachliche Chiffre für ein mächtiges gesellschaftliches Paradigma der Stellvertretung. Und natürlich um Erwartungen, Selbst- und Fremdbilder und Zuweisungen. Sprache und Bewusstsein konstituieren sich gegenseitig. Studien, die wasserdicht nachgewiesen haben, wie sehr das grammatikalische Geschlecht unser Denken, unsere Assoziationen und z.B. Berufsvorstellungen beeinflusst und damit unsere Gesellschaft mitgestaltet, lassen sich ohne große Mühe finden, wenn man an dem Thema wirklich interessiert ist1.
Sprechen ist ja schön und gut, die nächste Frage war die nach dem Schriftbild. Da gab und gibt es verschiedene Varianten, von ausgeschrieben „Lehrerinnen und Lehrer“ über „Lehrer(innen)“, „Lehrer/innen“, „LehrerInnen“, oder auch „Lehrer*innen“ und „Lehrer*Innen“, bis schließlich „Lehrer_innen“. Die Begründung des Unterstrichs, auch Gender_gap genannt, ist nun vollkommen neu und unterscheidet sich deutlich von den anderen Versionen. Hier findet eine Art Symbolisierung im Schriftbild statt. Der Unterstrich soll allen Menschen Raum geben, die eine binäre Geschlechtszuordnung ablehnen, manche würden sagen „dazwischen“ sind2. Am treffendsten wäre hier wohl die Bezeichnung „Ideogramm“.
Wir haben es also mit drei Ebenen zu tun: Schrift, gesprochene Sprache und Sinn. Gehen wir vorerst davon aus, das Eine soll das Andere abbilden. Das Interessante ist, dass das Unterstrichkonzept die Sprechebene überspringt und gleich einen Sinn abbilden soll. Also wie ein Symbol bzw. Ikon ☺. Der Unterstrich lässt sich nicht hören, nur sehen. Vielleicht wird er aber mancherorts bereits irgendwie mitgesprochen, das wäre vorstellbar. Sein Bildcharakter jedenfalls markiert einen ganz anderen Zugriffs- und Änderungsversuch von Sprache, als z.B. die Erfindung von neuen Pronomina etc.
Können wir alles in ein Schiftbild legen, was wir wollen? Was ausgelassen wurde, was der Schrift verloren ging, was der Grammatik nie eignete, was sie überschreitet? Stimmt – nur weil die Antwort nein heißt, lässt sich trotzdem eine Auswahl treffen. Dennoch – es ist der erste Schritt zum Bild. Im Grunde wie ein Emoticon, das sich im schnelllebigen Zeitalter des Internets immer größerer Beliebtheit erfreut. Diese ikonographische Tendenz, („Iconic Turn im www?“) lässt sich als neue Entwicklung begreifen, aber auch als alte, denn wir kehren damit zu den Ursprüngen der Schrift zurück. Zu ihrem Stadium als Abkürzung oder erster Laut einer Bezeichnung. Die Bezeichnung bezog sich dabei auf eine Zeichnung, also eine Darstellung eines Gegenstands bzw. Tieres.

Für den Philosophen Vilém Flusser war der Ursprung der Schrift aus dem Bild ein zentraler Referenzpunkt seines Werks. Texte bedeuten für ihn Bilder, die die Welt bedeuten. Eine fortschreitende Abstraktion. Für ihn sind das zwei Welten, die sich abgelöst haben: Das magische Bild in seiner Szenerie und Gleichzeitigkeit seiner Elemente machte dem projektiven Denken, dem Entwurf Platz, also der Linearität, Prozessualität, Progressivität und Geschichte. Ideogramme waren dabei das Medium, das neues Denken ermöglichte und zeigte. Somit das lineare Denken der Schriftlichkeit auf den Weg brachte, selbst aber noch stark bildhaft war. Doch wurde hierbei nicht abgebildet sondern projektiert. Graphisch festgehalten wurde kein Laut, sondern eine Möglichkeit, ein Sachverhalt aus der Zukunft. Flusser glaubte, dass es diesen Wandel beim Übergang vom Paläolithikum zum Neolithikum gegeben hat, z.B. bei der Planung der Feldbewässerung. Er denkt dabei an geometrische Figuren auf „Lehmtafeln“.
„Es waren keine Abbilder ersehener Erscheinungen, wie bei allen vorangegangenen Bildern der Fall. Es waren Bilder von Begriffen (Ideogrammen), und die Begriffe meinten „mögliche“, noch nicht verwirklichte Phänomene“3.
Es gibt eine diagrammatologische Tradition, die die Schrift eher in die Nähe von Bildern als in die von Sprache rückt4. Das heißt, die Begrifflichkeit und Typisierung, die der Sprache eigen ist, kann in der Schrift unter Umständen umgangen werden – der Unterstrich ist ein Beispiel dafür. Das Bedeutende dabei ist jedoch, dass in diesem Schriftbild nicht einfach eine beliebige Veränderung vorgenommen wurde, sondern eine symbolische, bildhafte. Zwischen der männlichen Endung und der weiblichen Endung wurde ein Zeichen eingefügt, welches versinnbildlicht, dass es einen Raum dazwischen gibt. Diesem Raum soll stattgegeben werden. Damit wird er bezeichnet, ausgezeichnet, dargestellt. Er bleibt jedoch leer, entweder weil es keine grammatische Form gibt, die ihn füllen könnte (damit wäre er ein Verweis auf die Sprache5), oder weil der Raum als gegebener, hergerichteter Raum kenntlich bleiben muss, als Signal, dass ein politischer Diskurs ihn kreiert hat, um jene willkommen zu heißen, die ihn fordern, brauchen und in Anspruch nehmen. Diese Leute repräsentiert er letztlich als Zeichen. Und das in einer Grammatik, die diesen Raum eigentlich nicht zulässt. Damit ist der Unterstrich Abbild und Ausdruck (Zeichen) zugleich für Leere und Unsichtbarkeit. Dies ist das Äquivalent zum illokutionären Sprechakt – in einem Vollzug wird symbolisiert und damit gleichzeitig realisiert.
Die Philosophin Sybille Krämer schreibt:
„Diese Auffassung, die Schrift als eine Form des Sprachgebrauches versteht, geht von vier (mehr oder weniger stillschweigenden) Prämissen aus: (a) Unter dem Aspekt der Diskursivität von Sprache gilt Schrift als Sprache und nicht als Bild und das heißt zugleich: Schriften gehorchen dem eindimensionalen Register der Linearität. (b) Unter dem Aspekt des Zeichencharakters von Sprachen werden Schriften der Domäne des Symbolischen und nicht des Technischen zugeordnet und das impliziert: Schrift ist etwas, das gelesen und interpretiert und weniger etwas, mit dem handgreiflich operiert wird. (c) Unter dem Aspekt der Funktion von Sprachen dienen Schriften der Kommunikation und weniger der Kognition. Schrift ist ein Medium der Verständigung und weniger ein Instrument kognitiven Problemelösens: Mit Schriften stellen wir etwas dar, aber nicht etwas her. (d) Unter dem Aspekt der Semantizität alles Sprachlichen ist die Wahrnehmbarkeit der Schrift (aisthesis) nur das transparente Medium ihrer Verstehbarkeit (logos) und das heißt zugleich: Die Sinnlichkeit der Schrift gilt als Steigbügelhalter des Sinns; ihre Sichtbarkeit ist wie ein Fenster, dessen Durchsichtigkeit den ‚Blick’ auf sprachliche Bedeutungen zulässt.“6
Fragen wir uns, welche dieser Prämissen durch den Unterstrich unterlaufen werden, wird auch der radikale und innovative Charakter dieser Form der Zeichenverwendung deutlich: a) Wie oben erwähnt lässt sich der Unterstrich sehr wohl als Bild, zumindest aber als Ideogramm auffassen und unterläuft schriftliche Linearität deutlich. Diese Prämisse ist also ungültig. b): Diese Prämisse ist gültig, weil der Unterstrich symbolisch verstanden und interpretiert wird und kein Objekt von Operationen ist, wie Zahlen oder Noten. Punkt c) ist ein wenig komplexer und das liegt am Entstehungszusammenhang des Unterstrichs. Der Unterstrich symbolisiert und zeigt ja auch eine politisch-gesellschaftliche Auffassung, sowohl durch seinen Inhalt, dann dadurch, dass es ihn gibt in dieser Form (jemand ihn kreiert hat) und schließlich dadurch, dass/wenn er verwendet wird, denn das ist keinesfalls zwingend. Dies war bei der Nennung der weiblichen Form (mündlich und schriftlich) nicht anders und ist es teilweise immer noch. Das heißt, dass die Verwendung des Unterstrichs durchaus einer kognitionspolitischen Agenda folgt. Hier wird eben nicht nur etwas dargestellt, sondern versucht, etwas zu vermitteln bzw. herzustellen, das Problembewusstsein genannt werden könnte. Die Verwendung ist ein Signal. Diese Prämisse der reinen Abbildung trifft also ebenfalls nicht zu. Mit d) ist ein „opaker Operationsraum“ gemeint. Ein Zeichen kann einen gewissen Interpretationsspielraum besitzen, ein „Auseinandertreten von Sinnlichkeit und Sinn“. Das ist im Fall des Unterstrichs gewiss gegeben. Sein Sinn ist nicht so umstandslos auffassbar und verbalisierbar wie bei einem Buchstaben. Auch diese Prämisse ist also im Falle des Unterstrichs ungültig.
Damit wird ersichtlich, dass der Unterstrich das übliche Verständnis von Schrift unterläuft. Zwar wird er auch geschrieben, ist Bestandteil von Worten, hat Zeichencharakter und damit einen zugänglichen Sinn. Doch seine Verwendung und Bedeutung, seine Form und sein Inhalt, brechen das umliegende Schriftsystem auf, indem ein paradigmatischer Wechsel in der Zeichenverwendung und -deutung stattfindet.

„Die Schrift ist eine Hybridbildung in der sich Sprache und Bild, Diskursives und Ikonisches verbinden. [...] Die Materialität der Schrift verleiht unsichtbaren ,Wissensdingen' einen Objektstatus, indem es diesen zu einer Art von Körperlichkeit verhilft: So kann mit epistemischen Gegenständen auch handgreiflich umgegangen werden.“7
Der Unterstrich ist zwar ein Ideogramm, hat aber auch ikonischen Charakter, ähnlich der ikonischen chinesischen Schrift, die ursprünglich auf graphischen Abbildungen beruht. Sie malt (schreibt) also die Welt (Feuer: 火, Baum: 木). Interessanterweise bildet der Unterstrich ja aber nicht etwas ab, was uns in der Welt begegnet oder sichtbar wäre. Er bildet keine Menschen ab, die sich einer binärgeschlechtlichen Zuordnung verweigern. Es sind keine kleinen Figuren zu sehen, sondern ein Ideogramm, das doch Bezug nimmt auf die umgebende Schrift, aber nicht als Zeichen, sondern auf deren Inhalt. Der Unterstrich bildet auch kein Ideal ab oder erfindet einen neuen Genus. Der Unterstrich bildet vielmehr den sprachlichen Diskurs und die Frage nach einer Einordnung metaphorisch ab. Er hat damit einen selbstreferentiellen Einschlag. Mit dem Unterstrich wird die Sprache nicht hintergangen (ginge das überhaupt?) sondern reflektiert. Der leere Raum, das unaussprechbare Zeichen „_“ symbolisiert also eher, als es ikonisiert. Es symbolisiert vielleicht Leere an Zuschreibungen, vielleicht Freiraum und Potential, vielleicht Abstand, oder markiert ein Versäumnis und Vergessen. Was auch immer es im einzelnen ist (es gibt verschiedene Verständnisse und Äußerungen), frappierend ist der Paradigmenwechsel innerhalb des geschriebenen Wortes: Bezeichnen zunächst Buchstaben Laute, um Worte zusammenzusetzen, bricht die phonographische Funktion plötzlich ab, um einem Zeichen Platz zu machen, das illustratorisch Bezug nimmt auf die Verwendung eben jener Konzepte, die mit Sprache/Buchstaben ausgedrückt werden. Das heißt, wir haben keinen metaschriftlichen Bezug der Schrift auf Schrift oder eine Leseanweisung wie bei Satzzeichen ("?,-!), keinen so stark bildhaften wie bei Icons/Emoticons (der _ ist weit abstrakter und Teil des Wortes), keinen logographischen wie bei der Hieroglyphe (es gibt kein Wort, für welches „_“ steht), sondern einen quasimetaphorischen inhaltlichen Bezug, der das Wort in seiner Bedeutung manipuliert. Er geht dabei also mit Schrift über Sprache hinaus, denn es gibt im Deutschen für das selbe Substantiv nur die grammatikalische Alternative männlicher oder weiblicher Endung.
Der repräsentative Charakter des sprachlichen/schriftlichen Problems für einen tiefergehenden Diskurs ist durch den Unterstrich erkennbar gemacht. Er funktioniert als Symbol für einen Ausdruck, den es nicht gibt, aber somit auch für jene, die nicht ausgedrückt, benannt werden können (wollen, sollen) und es doch durch ihn gleichzeitig werden und nicht werden - auf geradezu Derrida'sche Art. Wie erwähnt reflektiert der Unterstrich damit eher Sprache und sprachliche Diskurse der Repräsentation als zu repräsentierende Gruppen direkt.
Vom „Geschehnis“ zurück zum „Ereignis“8: Der Umbruch im Wort ist ein Umbruch im Lesefluss, von der Linearität, vom Geschichtlichen und eindimensionalen, wie es Flusser formuliert, zum Bild, welches eine repräsentative Funktion der Ermöglichung von Vorstellung hat. Diese Ermöglichung von Vorstellung durch das Zeigen einer Leerstelle macht dem Lesefluss damit ein abruptes Ende und schickt den Blick in ein zeitloses Paradoxon ansichtiger Abstraktion. Der Blick schwebt wahrscheinlich eine Weile, denn das Bild ist, wie Flusser (und Benjamin) sagt, zeitlos und von ewiger Wiederkehr bestimmt. Es ist hier trotzdem Teil eines Wortes und aus Elementen zusammengesetzt, die zur gelesenen Schrift gehören. Der Blick eilt dann also weiter, hat mit der inneren Stimme wahrscheinlich eine kleine Pause vor dem „innen“ gelassen und kann sich dann dem nächsten Wort zuwenden.
„Die Geste des Aufschreibens ist die Art, wie sich unser Geschichtsbewusstsein äußert. Und das Geschichtsbewusstsein ist ein gegen Vorstellungen, gegen Bilder, gegen Mythen, gegen die „Vorgeschichte“ gerichtetes Bewusstsein. Wir schreiben auf, um die vorgeschichtlichen „vorbewussten“ Bilder in lineare, klare und deutliche Begriffe zu übersetzen. Wir schreiben auf, um Mythen zu zerfetzen und diese Fetzen auf Fäden („linea“ = Leinenfaden) zu kleben. Aufschreiben ist jene Geste, welche die Fläche der zerrissenen Bildmythen zu Begriffsfäden aufrollt.“9
Zweidimensionale Bilder bilden nach Flusser Ausschnitte der Welt ab. Schrift besteht aus zerdröselten, linear und abstrakt gewordenen Bildern, hat also eine größere Distanz zur Welt. Denn Bilder zeigen unmittelbar, Schrift abstrahiert und ordnet sequentiell. Einzeln, nacheinander werden die Wörter in Zeilen angeordnet, mit Finger und Auge „aufgelesen“. Der Unterstrich bricht diese Linearität radikal ab. Er ist bildhaft, entspricht dabei keinem „klaren deutlichen Begriff“, sondern ist Platzhalter und Repräsentant eines sprachlichen und politischen Konzeptes.
„Mit der Erfindung der linearen Schrift stellt sich die abstrakte Welt der Prozesse vor die Welt der Sachverhalte.“9a
Trotzdem bleibt die Frage, was der Unterstrich eigentlich „zeigt“. Oben wurde gesagt, der Unterstrich „versinnbildliche“ den Diskurs der auch zu seiner Entstehung geführt habe. Dies durch das ambivalente Zeigen und Markieren von Abwesenheit und Anwesenheit, von Raum und Kategorie. Ist das Bild dann aber nicht 1. leer und 2. kein Bild mehr? Denn es gibt nichts zu sehen. Gezeigt wird ein Spiel mit Kategorien, mit welchen die es gibt, nicht gibt und geben könnte. Es wird nichts dargestellt was ein Bild sein könnte. Im Gegenteil überschreitet das Ideogramm in seiner Abstraktheit noch die Schrift und Sprache, die ja letztendlich konkret Stellung beziehen und objektivierte Bezeichnungen verwenden muss, die es gibt, also anerkannt sind. Der Unterstrich macht hingegen keine Aussage (wie die Schrift), stellt aber auch nichts dar (wie das Bild). Postmoderne Philosophie würde vielleicht sagen, er symbolisiert eine Negativität von Begrifflichkeit oder so ähnlich. Der Unterstrich versucht Abstraktes und Begriffliches graphisch darzustellen, bedient sich also graphischer Metaphern in der „verräumlichten Sprache“10. Denn nur dort kann die Sprache im Hinblick auf ihre Sprechdimension überschritten werden.
„Gelesen“ im Sinne einer Begrifflichkeit wird der Unterstrich jedenfalls nicht. Flusser schreibt:
„Das Lesen von Buchstaben erfordert eine größere Anstrengung als das Lesen von Ideogrammen, es ist unbequemer. Dafür macht es ein unkritisches Empfangen von Informationen unmöglich. Das Verfolgen der Zeilen ist eine kritische Denkgymnastik.“11
Flussers Kritikbegriff hängt wieder mit seinem Konzept der Linearität zusammen. Er versteht das „zählen, aufzählen, erzählen“ (- „auflesen, lesen“) als Tätigkeiten des Ordnens, Teilens, Aufreihens und Formens, also In-Formation - bringens. Rationalität habe mit Rationen, mit Quantitäten zu tun. „Das griechische Verb krinein entspricht dem deutschen „teilen“, „schneiden“ oder „brechen““12. Diese Tätigkeit finde im Schreiben statt, wo jene erwähnten „Begriffsfäden“ entstehen, dadurch, dass Bilder zerteilt, geteilt, beurteilt werden. Über sie werde ent-schieden. Daher sei der Urspung der Schrift die Bildkritik. Buchstabenschrift stellt also bereits zerteilte, geordnete Information dar, Begriffe. Ein Ideogramm wie der Unterstrich als Teil der Schrift ist schwieriger zu verstehen, weil es kein unmittelbares Signifikat gibt, weil das Bild als Szenerie wirkt und erst vom Publikum beur-teilt werden muss.
„Die alphabetische Schrift stellt die Sprache als ein System von Anordnungen vor Augen; sie transkribiert damit nicht das Sprechen, sondern die Form der im Sprechen gebrauchten Sprache und versinnlicht so, was ohne die Schrift den Sinnen sich überhaupt nicht zeigt.“13
Hier ist nicht der Platz, auf den riesigen Diskurs der Unterschiede zwischen
Sprache und Schrift einzugehen (von den Voraussetzungen und Implikationen des Sprechens und der Stimme ganz zu schweigen). Spätestens mit Derridas Grammatologie jedoch ändert sich die wissenschaftliche Sicht auf Schrift als lediglich phonographisches Mittel, als
Abbildmedium des Gesprochenen. Schrift hängt nicht nur von Sprache ab und hat teilweise vollkommen andere Voraussetzungen. Schrift kann - dem Bilde ähnlich - Inhalte und Sachverhalte darstellen, ohne Rückgriff auf eine sprachliche Formulierung oder einen konkreten Terminus. Es gibt eine ganz Schriftpoesie, die so
verfährt - denken wir an Ernst Jandl. Wenn wir diesen Flur weitergehen, gelangen wir zur Typographie als Stilmittel, zum Graphikdesign und schließlich zum Bild. Der sprachliche Inhalt tritt immer
mehr in den Hintergrund zugunsten einer Vermittlung durch Abbild, Assoziation und Konnotation. Bei der Gestaltung von Logos und Werbeslogans wird das besonders deutlich. Im Grunde versteckt sich
– nach Flusser – und auch historisch betrachtet hinter der Schrift das Bild, die Darstellung und Abbildung von etwas Gesehenem bzw. Projiziertem (s.o.). Erst Schrift lieferte das Vorbild
für ein Verständnis von Sprache als ein System, ein Zeichensystem das auf Regeln und distinkten kombinierbaren Grundelementen beruht, wie Krämer deutlich macht.
„Das Bild einer Sprache, die als universale Tiefenstruktur und als rationalisierbares Wissenssystem allem Sprechen zugrunde liegt, ist Projektion und Produkt der kulturhistorischen Form ihrer schriftsprachlichen Darstellung und Bearbeitung.“14
Um den Unterstrich zu verstehen, scheint es, müssten wir die Sprache beiseite lassen (denn sie beinhaltet nicht, was der Unterstrich präsentieren soll) und das abbildliche Verhältnis von Schrift und Welt angehen.
Dass die Welt gelesen wird (nicht gehört), ist eine uralte Metapher. Für Walter Benjamin steht das „Lesen“ am Anfang der menschlichen Sprachauffassung und auch des menschlichen Zugangs zur Welt. „Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen, den Tänzen.“15 Sprache und Schrift seien Mimesis dieser weltlichen Erscheinungen, ihnen sei eine „unsinnliche Ähnlichkeit“ zu eigen. Adams Namensgebung ist hier ein gutes Beispiel. Für Benjamin „übersetzte“ Adam Identität in lautliche Äußerungen. Benjamin schließt hier an ein uraltes Problem an (vgl. Platons Kratylos).
Benjamins Begriff der „unsinnlichen Ähnlichkeit“ formuliert eine Ähnlichkeit, die nicht auf sinnlicher Wahrnehmung, z.B. Onomatopoesie beruht, sondern auf „magischen Korrespondenzen und Analogien“. Und diese Mimesis transformiere sich hinein in Sprache und Schrift. Sie sei heutzutage allerdings kaum noch zu erkennen, weil sie sich zu weit von ihrem Ursprung entfernt habe.
Die Frage nach Grammatik, Identität und Abbildung muss noch einmal gestellt werden. Es darf behauptet werden, es wird stets etwas jenseits der Sprache liegendes, aber tief empfundenes geben (hier ist ein Abzweig zu Kunst). Wird es je helfen, die Sprache umzustrukturieren? Dieser unendliche Atomismus, an den wir hier denken könnten, eröffnete durch das Schaffen neuer Kategorien immer neue Zwischenkategorien. Je mehr Säulen, desto mehr Zwischenräume.
Aber dies sei eingeräumt: In der politischen Debatte ist das Argument „wo soll das hinführen?“ illegitim. Es unterscheidet nicht zwischen Gründen und Einzelfällen und verabsolutiert in fatalistischer Manier das Prinzip um es zu disqualifizieren. In der Debatte um den Unterstrich sollte also die Rolle von Sprache und die Frage nach Genderidentitäten im Mittelpunkt stehen. Wer wird abgebildet? Welchen Bezug hat der Mensch zu seinem grammatikalischen Geschlecht? Zeigt der Unterstrich auf eine neue Kategorie oder eine Nicht-Kategorie? Und wird eine neue Kategorie nicht wieder Außenstehende hervorbringen, die nicht repräsentiert sind?
Es scheint, als sei die Debatte einem gewissen neuen/modernen Sprachverständnis geschuldet. Sprache wird nun sehr
persönlich verstanden. „Falsche“ Anreden, Bilder, Persönlichkeitsverständnisse sind verletzend bis beleidigend und stellen uns „unauthentisch“ dar. Das
heißt nicht unserem Selbstbild entsprechend, über das wir absolute Hoheit deklarieren. Im Zeitalter von Privatheit und Freiheit des Individualismus, aber vor allem von Selbstkreation, möchten wir
über alles die Kontrolle ausüben, was uns betrifft. Auch über das „Bild“ (oder Schriftbild) der anderen von uns. So sein können, wie wir uns fühlen. Und dieses Fühlen zeigt, dass wir in
diesem Bereich bereits stark von der Sprache abstrahieren, weil wir rebellieren, Begriffe und Kategorien sprengen.
Im Grunde ein unlösbares Problem. Beispielsweise hat Judith Butler in „Giving
an account of oneself“ sorgfältig problematisiert, wie Sprache uns niemals gerecht werden kann, weil sie unpersönlich ist und wir keine Macht über sie haben. Wir finden sie in der Welt vor,
prädisponiert; ihr Verständnis und ihre Anwendung sind von Unmengen an Zeit, Menschen und Interaktionen geformt. Der Unterstrich will dort nicht stehenbleiben.
Vielleicht ist dies die Stelle, an der die Rückkehr zur vormodernen und metasprachlichen Medialität von Bildern stattfindet.
„Auch die archaischen Bilder haben, als Mythogramme, keineswegs nur abbildende Funktion. Sie sind Beschwörungen der Welt und Projektionen auf eine Welt, die bekanntlich nicht immer so ist, wie sie sein soll. Der Projektcharakter der Bildermachens besteht darin, dem „Sein“ ein modellhaftes „Sollen“ überzustülpen oder die Welt nach unseren Ideen zu gestalten.“16
Ist der Unterstrich die Beschwörung einer neuen Kategorie oder die Loslösung von Kategorien überhaupt? Vielleicht ist es ein kultureller Übergang, dessen Transformation der Kreativität bedarf. So sieht es auch Flusser. Ob das „magische“ Bild jedoch die Welt und Anschauung des Sprachwesens Mensch wirklich beeinflussen kann, ob die begriffliche und ewig spröde Sprache durchs Bild hindurch zum Menschen gelangen, endlich passend und gerecht werden kann, mag sich erst noch erweisen.
Tempel der Hathor, Dendera, Ägypten
Deckenhieroglypen im äußeren Hypostylon
* „Zur besseren Leserlichkeit beschränken wir uns hier auf die männlichen Formen. Gemeint sind stets beide Geschlechter.“ – Oder so ähnlich.
1 http://www.psystudents.org/warum-gendern/
oder
http://scienceblogs.de/diaxs-rake/2010/10/06/der-effekt-geschlechtsneutraler-sprache/
2 Wobei das Sprechen von einem „Dazwischen“ ja das Binäre geradezu wieder bestätigt.
3 Flusser: „Alphanumerische Gesellschaft“, in „Medienkultur“ S. 46.
4 Vgl. Sybille Krämer: 'Operationsraum Schrift' Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift, 2005. Die Linguistik wurde erst spät aufs Phänomen Schrift aufmerksam - „for most of the twentieth century linguistics has almost wholly ignored writing.“ Geoffrey Sampson: Writing systems: a linguistic introduction.
5 Nach Flusser wird die Sprache beim Schreiben vom Medium zum Objekt: „Beim Lesen und Schreiben nehmen wir Abstand von der Sprache: sie ist nicht mehr ein Medium, durch welches hindurch wir etwas ausdrücken, sondern sie wird zu einem Objekt, auf das wir Buchstaben drücken. Diese Distanz zur Sprache, dank welcher sie zu einem Gegenstand wird, charakterisiert das Schreiben.“ (Kommunikologie S. 55). Dies gilt für den Unterstrich umso mehr, als er medial Sprache nicht so sehr vermittelt (zumindest kein Wort), sondern sie graphisch manipuliert und prägt.
6 Krämer: Operationsraum Schrift.
7 Ebd.
8 Flusser: „Alphanumerische Gesellschaft“, in „Kommunikologie“ S. 44.
9 Flusser: „Aufschreiben“, http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/Medienoekologie/uploads/flusser-aufschreiben.pdf.
9a Flusser: Lob der Oberflächlichkeit S. 15.
10 Schrift als „Verräumlichung von Sprache“: Krämer: Operationsraum Schrift.
11 Alphanumerische Gesellschaft S. 57.
12 Flusser: Kriterien-Krise-Kritik, in: Lob der Oberflächlichkeit S. 91.
13 Krämer: Operationsraum Schrift.
14 Sybille Krämer: Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? S. 380.
15 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften II (1972) S. 213.
16 Frank Hartmann: Flusser - Das Abstraktionsspiel, http://homepage.univie.ac.at/frank.hartmann/seminar/Flusser.html.
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