L'Arbrisseau
Der schlechte Baum
Dure nuit!
Le sang séché fume sur ma face, et je n’ai rien derrière moi, que cet horrible arbrisseau! …
Rimbaud, Adieu, Une Saison en Enfer
Im Hofe steht ein Pflaumenbaum,
Der ist so klein, man glaubt es kaum.
Brecht, Der Pflaumenbaum
And all that I can see
Is just a yellow lemon-tree
Fools Garden, Lemon Tree
A green plastic watering can
For a fake Chinese rubber plant
Radiohead, Fake Plastic Trees
Es gibt das literarische Motiv des großen, starken Baumes. Als Sinnbild ist er Stütze und Beschützer, spendet Schatten, Obdach und Früchte. Er bietet sich als Metapher für Menschen an, wird auch als stimmungsvoller Ort oder als Symbol für Natur und Leben schlechthin verwendet. Das Spiegelbild dieses Konzeptes ist der Galgenbaum.
Der kleine, schwache oder verhasste Baum taucht nicht besonders häufig auf. Er ist auch keineswegs mit dem Schössling oder Setzling als Sinnbild von Hoffnung und Zukunft zu verwechseln, sondern als Enttäuschung des Baumbildes der Stärke und Unverfälschtheit zu verstehen. Er mag domestiziert sein, vielleicht sogar ein Plastebaum (also totgeboren unsterblich, ein Geist, eine Illusion und Perversion des Lebenssymbols), in einem Topf auf menschliche Fürsorge angewiesen oder sonst wie von der Natur, also von sich selbst entfremdet1.
Der schlechte Baum nun ist in keiner Weise nützlich, nicht einmal zur geistigen Erbauung. Eher macht er traurig oder wütend. Das mag oft an seinem dystopischen Charakter liegen, einer Überwältigung durch Moderne, Technik, Werkzeug. Das muss aber nicht für jeden schlechten Baum gelten, wenngleich es uns heute schwer fallen mag, schwache Bäume nicht mit Umweltzerstörung und drohendem Untergang der Natur zu verbinden. Wenn Rimbaud den Baum der Erkenntnis zum Bäumchen degradiert und verflucht, stellt er nicht nur dessen Nutzen und Bedeutsamkeit in Frage. Er formuliert auch die eigene Enttäuschung, Rebellion und Größe. Keine ewige Instanz, kein bäumischer Meister zum Anlehnen, zum Schutzgewähren, zum Nähren, sondern eine verdammte mittelgroße, wertlose Topfpflanze erscheint vor dem inneren Auge.
Was den Baum zum Baum macht, ist vor allem Wachstum2 und Frucht, die er bringt. Das kulminiert im Bild des Weltenbaumes. Beides kann der schlechte Baum nicht erfüllen, er ist klein und wahrscheinlich unfruchtbar. Mit seiner geringen Größe wird auch ein geringes Alter angedeutet. Für Bäume, die gerne mit Weisheit, Alter und Beständigkeit („knorrig“) assoziiert werden, ist dies ein Zeichen der Unzulänglichkeit. Das heißt nicht, dass ein Baum schlecht ist, weil er ein Bäumchen ist. Aber es ist wahrscheinlich, dass ein Baum, wenn er im beschriebenen Sinne als Stimmungsmittels eingesetzt wird, klein oder schwach ist. „Bäumchen“ klingt zwar zunächst harmlos. Es gibt aber durchaus Beispiele wie das singende, klingende Bäumchen, das eine ambivalente und letztlich Unheil auslösende Rolle spielt.
Der schlechte Baum ist auf eine gewisse Art pervers, abnorm. Eine Deviation. Die Norm und die Erwartung an einen Vertreter der -Bäume- wurden nicht erfüllt. Irgendetwas ist schief gelaufen. Die Dinge sind nicht so, wie sie sein sollten. Dies ist keine Welt (mehr), in der man den Baum an seinen Früchten erkennt. Es kann sich fast eine Art Ekel einstellen, ein Grusel vor Deformation und Missgestaltung, Sterilität. Das lässt sich literarisch freilich gut einsetzen. Interessanter Weise scheint Mitleid mit dem schlechten Baum die Ausnahme zu sein. Das Bild wird eher gebraucht, um aus der Kulisse heraus eine unangenehme Stimmung der Abwegigkeit zu transportieren.
Besteht Hoffnung? Kann das Bäumchen noch aufschießen? - Es besteht keine. Das Bild wäre ein grundlegend anderes. Hoffnung verkörpert der gute Baum oder der Setzling. Der schlechte Baum ist ein statisches Bild, ohne Entwicklung und Perspektive. Er ist kein Kranker, der vielleicht noch genest. Auch eine Ruine wird kein Haus mehr werden. Selbst bei Brecht, wo das Bäumchen sogar im Mittelpunkt steht und eine Perspektive durch den Wunsch nach Wachstum angedeutet ist, wird sofort jede Möglichkeit versiegelt. Er „kann nicht“. Von Wachstum kann „keine Red“ sein.
Der schlechte Baum bleibt „Baum“, und deswegen immer ein Negativ im zwangsläufigen Vergleich zum starken und guten Baum-Topos. In diesem provokativen Kontrast bleibt er eine Enttäuschung und Deviation. Als literarisches Bildmittel steht er für diese Stimmung.
1 Übrigens ist die abhängige Pflanze, die vollkommen lautlos und unbemerkt stirbt, wenn sie vergessen wird, ein ganz anderes Motiv als das gequälte Tier oder der eingesperrte Mensch.
2 Der Aspekt des Wachstums, der Fülle und Verzweigung findet sich im Baumdiagramm, Stammbaum und baumartigen Entwicklungsmodellen. Vermittelt wird dadurch eine organische, graduelle Ausformung, eine Phylogenese.
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