Fakten und Fakes

Trump und die Postmoderne; Wissenschaft und Wahrheitsbegriff

Teil 1

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Truth isn't truth.

Rudy Giuliani

 

 

Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum »an sich« feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen.“

Friedrich Nietzsche

 

 

 

Teil 1:

I  – Postmodern im Weißen Haus?

II – Wer weiß was? Kämpfe der Wissenschaften

  • der Methodenstreit
  • die Snow-Debatte

  • die Science Wars

 

Teil 2:

III – Back to the facts – and models

IV – Eliten

 

Teil 3:

V  – Konstruktivismus, Sozialkonstruktivismus und Latour

VI – Schluss

 

Literatur und Quellen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Grazia Borrini-Feyerabend (Feyerabend) © Jack Manning (Snow) © Yorgos Kourtakis (Sokal) © Gage Skidmore (Trump)

 

 

I - Postmodern im weißen Haus?

 

Die Argumentation, der Poststrukturalismus oder die Postmoderne (das ist in diesen Polemiken austauschbar) habe Trump den Weg bereitet und herrsche jetzt durch ihn im weißen Haus mit dem Terror des Postfaktischen, basiert letztlich nur auf der scheinbaren Relativierung des Wahrheitsbegriffs. Der Urvatermord Nietzsches, seine Erbsünde habe sich über Jahrzehnte als sinnleere Denkkonjunktur verstiegen und akkumuliert, und nun sei die Konsequenz dieser ganzen sinnlosen Wortdaddelei sichtbar. Nun zeige sich nämlich, was wirklich passiert, wenn man die Postmoderne in die Tat umsetzt. – Dies liegt implizit als Rhetorik unter zahlreichen Zeitungsartikeln, die man häufig, ihren eigenen Hang zur entstellenden Symbolik aufgreifend, Unisexklos-sind-Schuld-an-Trump-Artikel nennen kann1.

 

Es gibt im wesentlichen drei gewichtige Argumente gegen diese Sichtweise, die sich, wie gesagt, vor allem an der notorischen Lügnerei des Präsidenten aufhängt, indem sie diese mit einem vermeintlich postmodernen Wahrheits- oder Faktenverständnis verknüpft.

 

  1. Trump und seine Berater haben keine Ahnung von der Postmoderne.

    Es ist davon auszugehen, dass Donald Trump nicht liest. Es ist davon auszugehen, dass er nicht weiß, worum es in dieser Denkrichtung geht, welche Themen wie gehandhabt werden und welche Schlussfolgerungen gezogen werden. Sein (heterogenes) Umfeld ist vielleicht nicht ungebildet (generell gesprochen), wird aber nicht, wie in anderen Fällen, durch eine stringente Philosophie und Weltsicht (Doktrinen usw.) dermaßen vereinnahmt und geprägt sein, dass es entsprechend denkt, spricht und handelt. Dass die Menschen die Dinge unterschiedlich betrachten, Illusionen aufsitzen, manipuliert und belogen werden können sind wahrlich keine postmodernen Erkenntnisse, die sich jemand aus seinem Umfeld herausgefischt oder aufgeschnappt und dann ins Werk gesetzt hat.

  2. Trump und seine Regierung des rechten, populistischen unilateralen Nationalkonservatismus (oder wie immer man diese Richtung beschreiben möchte) sind mit den wesentlichen Denkinhalten der Postmoderne vollkommen unvereinbar. Trump ist jemand (und seine Leute auch), der im höchsten Maßen essentialistisch denkt. Bestimmte Menschen haben bestimmt Eigenschaften: Mexikaner sind Verbrecher, Frauen sind Unterhaltungsinventar, Ausländer sind kriminell etc. Einem Mann von einem derart geringen Differenzierungsvermögen, dessen analytische Kategorien mit gut-böse weitgehend ausgeschöpft sind, irgendwie mit einem Denkstil der Wahrnehmungskonstitution zusammenzubringen, ist absurd. Trump sagt nicht einmal, dass jeder die Dinge anders sieht und „für ihn“ blendendes Wetter zur Inauguration herrschte. Nein, er lügt ohne Umstand und stellt Dinge als unumstößlich dar, ohne je Zweifel und Ambiguitäten zuzulassen. Diesem Mann stellt sich die Welt als dermaßen feste und klare Struktur dar (mit ihm selbst im Zentrum), dass sich hier kein Anhaltspunkt für Poststrukturalismus feststellen lässt. Wie gesagt - bloßes Lügen reicht dafür nicht.

  3. Im Poststrukturalismus wird im Allgemeinen nicht gesagt, dass es keine Wahrheit oder keine Fakten gibt, wenn auch deren Zugänglichkeit und Codierung problematisiert werden muss. Darum geht es in diesem Artikel. Diese ganze Denkrichtung interessiert sich für die Konstitution von Auffassungen, welche selbst nicht hintergehbar ist. „Tatsachen“ werden immer kommuniziert, kontextualisiert und instrumentalisiert. Hier will verstanden werden, wie das – auch unter machttheoretischen Aspekten – vor sich geht. Das ist besonders bei so mächtigen Institutionen wie Wissenschaft, Religion und Staat interessant, denn sie prägen, wie wir denken, welche Kategorien und Werte wir zur Einordnung nutzen und welche Konsequenzen in Betracht kommen. Zu sagen, dass es keine Fakten gibt, heißt, klarzustellen, dass davon nichts ausgenommen ist und es keinen archimedischen Punkt außerhalb gibt, der neutral wäre2. Damit wird ein altes positivistisches Wissenschaftsverständnis zurückgewiesen, das sich selbst als faktbestimmend (also fast göttlich) verstand und das teilweise auch heute noch als Verwechslung von Begriff und Phänomen verbreitet ist. Besonders bei Leuten wie Trump. Aber heißt das, es gibt aus postmoderner Sicht keine Fakten? Ist nun alle Wahrheit relativ und ist das nicht genau das saure Milieu der Verschwörungstheoretiker? Öfnen wir einmal den Weitwinkel...


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II – Wer weiß was? Kämpfe der Wissenschaften

 

Ich möchte das Problem gerne ausführlicher beleuchten anhand dreier wissenschaftstheoretischer Debatten, die epistemologische, methodische und gesellschaftliche Fragen formuliert und verhandelt haben. Sie laufen letzten Endes auf die Frage nach Faktum, Wissen und die Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hinaus; dies vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts mit seinen massiven sozialen und technologischen Veränderungen. Die drei Debatten, manchmal im Stile einer disziplinären Richtungsdiskussion geführt, aber auch als erbitterter Grundsatzstreit mit scharfen persönlichen Anfeindungen, hatten ihren Hauptaustragungsort jeweils im Deutschen Reich resp. im Vereinigten Königreich resp. In den USA. Es handelt sich um den Methodenstreit der deutschen Sozialwissenschaften (Jahrhundertwende), um die Snow-Debatte der „two cultures“ (ab 1959) und die Sokal-Affäre mit den sog. „Science Wars“ (1990er Jahre). Trotz der unterschiedlichen akademischen Traditionen, disziplinären Voraussetzungen, gesellschaftlichen und Zeitumstände muss man sagen, dass es sich im Grunde um ein und denselben Konflikt handelt, der immer wieder neu ausbricht und neu verhandelt wird und dies wohl auch in der Zukunft weiter tun wird. Offenbar gibt es im menschlichen Umgang mit ~Wissen etwas zu bewältigen und zu klären, einen Dissens, der (noch?) nicht überwunden ist und der das Wesen und das Selbstverständnis von Wissenschaft direkt und im Kern betrifft.

 

1.

Im 19. Jahrhundert hatten Hegel und der Idealismus als Denkströmung zunächst weite theoretische Räume eröffnet, die stark abstrakte und metaphysische Debatten vorantrieben. Das lässt sich als programmatisch aufklärerisch verstehen. Denn es war ja in der Aufklärung darum gegangen, von den irreleitenden, entmündigenden Einzelheiten von Subjekt, Zeit und allen möglichen Voraussetzungen wegzukommen und stattdessen zu den reinen, voraussetzungslosen, übergreifenden („objektiven“) Wahrheiten vorzustoßen. Als Vorbild dienten hier bereits die großen naturwissenschaftlichen Erfolge von Galilei oder Newton, die dann auch selbstreflexive Fragen nach wissenschaftlicher Methodik anfeuerten. Zum Teil als Antwort auf diese über-vergeistigte „Hegelei“ entwickelte sich dann aber ein empirisches Wissenschaftsverständnis, das als Historismus bezeichnet wird (ein ähnlicher Ausgangspunkt der Kritik wie später der des Existentialismus). Im Gegensatz zum Idealismus versuchte man sich dabei auf einzelne Fragen, Personen, Ereignisse zu beziehen - in ihrem individuellen geschichtlichen Kontext, also immanent, ohne dabei gleich Gott, die Welt und den Menschen erklären zu wollen (aber durchaus die Gegenwart). Man muss gar keine großen Schlüsse ziehen, sondern untersucht die Sache innerhalb ihrer Voraussetzungen selbst. Dieser Ansatz war so erfolgreich, dass er sich bald als wissenschaftlicher Standard durchsetzte.

 

Der Historismus sah die Welten des Menschen und der Natur als grundverschieden an. Die Geschichte sei dem Experiment verschlossen. Und die Gesetzmäßigkeiten der Natur ließen sich nicht auf den Menschen übertragen, weil er willensmäßig handele. Deswegen gehe es nicht um Erkenntnis von allgemeinen Gesetzen sondern um historische Tatsachen, die verstanden werden müssten. Weber hat das später prägnant ausformuliert. Auch bei Dilthey ist die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zentral. Er betont die Wandelhaftigkeit dessen, was für Menschen und in Kulturen als vernünftig gilt und spricht dabei von „Weltanschauungen“. Damit relativierte er freilich bereits einflussreich den Wahrheitsbegriff, bezog sich aber auch auf Sitte, Recht und natürlich den Zusammenhang von Wissenschaft und gelebter Erfahrung (zu dem dann letztlich auch Husserl zurückkehrte).

 

Dem Historismus (auch Humanismus genannt) gegenüber stand der Positivismus (auch Naturalismus genannt) - von Comte entscheidend geprägt. Hier sah (sieht) man keine wesentlichen Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen mit ihren Gegenständen und erhebt die naturwissenschaftlichen Prinzipien und Methoden zum einzig legitimen Standard. Damit propagierte der Positivismus freilich auch eine stringente Einheit von Wissenschaft(lichkeit) im Ganzen. Das heißt, er konnte von einer Wahrheit ausgehen, die allen gleich und gemeinsam zugänglich ist. Zudem stand im Hintergrund durchaus auch die funktionale Idee einer Steuerbarkeit von Gesellschaft, wenn ihre gesetzmäßigen Abläufe verstanden sind. Comtes naturwissenschaftliches Verständnis von Soziologie ging so weit, dass er die Disziplin eigentlich sogar „soziale Physik“ nennen wollte.

 

Es ist offensichtlich, dass es auf einen Konflikt hinauslaufen musste. Der Historismus begann immer stärker vom Positivismus kritisiert, ja angegriffen zu werden. Und schlug zurück. Zu Webers Zeit war der Streit bereits offen entflammt. Dabei setzte dem Historismus auch der Marxismus und ökonomische Schulen zu. Für die 1890er Jahre spricht man vom Methodenstreit, der sich auf Soziologie, Ökonomie und Geschichtswissenschaft erstreckte. Gerade in der Ökonomie suchte man mittlerweile immer mehr nach allgemeinen, universalen Gesetzen. Hier wollte man deduktiv vorgehen, weil über Beschreibung und Einzelphänomene kein gangbarer Weg zu Theorie und Gesetzmäßigkeit zu führen schien. Solche Gesetze hatten freilich ein bestimmtes zeitgeschichtliches Menschen- und Wirtschaftsbild zur Voraussetzung, damit also auch eine gewisse Zielvorstellung. - Man darf dabei die gesellschaftliche Situation nicht vergessen. In diesem Streit spielte es eine Rolle („soziale Frage“), ob man ökonomische Forschung mit gesellschaftlicher Verantwortung zusammenbringt (wie Webers Lehrer Schmoller), oder eher als rein akademische Angelegenheit betrachtete.

 

Und es scheint sich hierbei weniger um ein Problem der Erkenntniskritik und Methodenlehre als um einen Gegensatz der „Weltanschauungen“ zu handeln, der rein wissenschaftlichen Argumenten kaum zugänglich war. Nach einem kurzen Versuch, die Sachlage logisch zu klären, ziehen sich die Gegner auf gewisse metaphysische Grundpositionen zurück, aus denen sie nicht vertrieben werden können, in denen aber freilich jeder nur sich selbst behaupten kann, ohne den anderen überzeugen oder widerlegen zu können. Die Entscheidung zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft, zwischen Naturalismus und Historismus scheint damit fast dem Gefühl und dem subjektiven Geschmack des einzelnen Forschers anheimgegeben zu sein; die Polemik gewinnt mehr und mehr das Übergewicht über die objektive Beweisführung.3

 

In diese Zeit fällt auch das Werk Nietzsches, das zum Teil deutlich wissenschaftskritische Züge trägt. Er sah die historistischen Studien als lebensfremd und lebenspraktisch bedeutungslos4.

 

Langfristig trug der Positivismus den Sieg davon. Meiner Meinung nach kann man das auch heute noch an und in unserer Gesellschaft sehen. Endgültig ging der Historismus nach dem ersten Weltkrieg unter5. Weber ist auf die Positivisten zugegangen und hat in Verbindung mit Geschichte mehr Theorie und Reflektion gefordert. Infolgedessen widmete er sich stark der Methodik.

 

Weber hält am dualistischen Wissenschaftsbegriff der historischen Schulen fest, gibt ihm aber einen anderen Inhalt. Die seinshaften Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft erklärt er für unerheblich. Entscheidend sei vielmehr, dass es zwei unterschiedliche Arten von Erkenntnisinteressen gebe, das Interesse am Allgemeinen, Generellen, gesetzmäßig Wiederkehrenden auf der einen Seite – und das Interesse am Besonderen, Individuellen, Einzigartigen auf der anderen. Beide Erkenntniskonzepte sind also sowohl auf Natur wie auf Geschichte/Gesellschaft anwendbar.6

 

Hierher gehören die Weberschen Begriffe Gesetzes- und Wirklichkeitswissenschaft, die ein Erklären resp. Verstehen ermöglichen7. Weber stand damit zwischen Marxismus, Historismus, Positivismus und der nationalökonomischen Tradition, also letztlich zwischen Idealismus und Materialismus. Als eine weitere Zwischenposition entwickelte sich der Strukturalismus, der besonders für die Linguistik, Semiotik und Literaturwissenschaft entscheidend war. Dieser wurde schließlich vom Poststrukturalismus überholt und beerbt.

 

Zumindest in der Soziologie sind die Mängel und Probleme eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses in den letzten Jahren immer deutlicher sichtbar geworden8. Auf der anderen Seite haben neue Mittel der statistischen Auswertung großer Datenmengen, aber auch neurologische Ansätze Perspektiven des szientistischen Blickes der Vorhersagbarkeit und Gesetzmäßigkeit auf menschliches Handeln befördert. Vielleicht darf das nicht verwundern, denn diese Konjunktur stammt aus den USA, wo eine positivistisch verstandene Soziologie schon immer dominant war. Dort wird solch eine Forschungsperspektive (und Forschung) auch durchaus von Wirtschaftsinteressen (Facebook) oder auch politischen Interessen (Cambridge-Analytica-Skandal) beeinflusst bzw. genutzt. Womit wir wieder bei Trump wären.

 

Die aufklärerische Teilung des Wissens in subjektiv und objektiv ist aber nach wie vor fundamental für all unsere Wissenschaften und prägt die Diskussionen um Natur- und Geisteswissenschaften. Es gibt Positionen, die das aufklärerische Konzept von objektivem und subjektivem Wissen ablehnen, die versucht haben, hinter diese Teilung zurückzufallen. Sie sind deswegen – trotz epochaler Bedeutung – eher als Parias, umstrittene Außenseiter und schöpferische Zerstörer bekannt. Gemeint sind Denker wie Nietzsche, Freud, Heidegger und Derrida9.

 

 

 

2.

Sir Charles P. Snow war ein erfolgreicher britischer Romanautor, der 1959 in Cambridge die prestigeträchtige Rede-Lecture halten durfte. Diese rief ein unerhörtes Echo hervor. In der angelsächsischen Welt ist dieser Streit, die „Snow-debate“, bis heute Begriff und naheliegender Bezugspunkt, immer wenn es um das Verhältnis von Wissenschaften zueinander und ihre Rolle in der Gesellschaft geht.

 

Snow nannte seine Vorlesung „The Two Cultures“. Er kritisierte darin das statthabende Verhältnis zwischen zwei Gruppen. Die erste nannte er „scientists“, als zweite fasste er irgendwie alle anderen Intellektuellen, vor allem jedoch solche, die mit Literatur befasst sind. Eine Form von „Traditionellen“. Die Termini wechseln nach Gusto. Seine Kritik richtete sich gegen jene tiefe Kluft, die zwischen diesen beiden lag, ein Verhältnis der Ignoranz, Abschätzigkeit und Ahnungslosigkeit dem anderen (Be)reich gegenüber. Snow selbst stellte sich dabei auf eine Art Vermittlerfunktion, da er ein naturwissenschaftliches Studium genossen habe, gar eine wissenschaftliche Laufbahn in Aussicht, die er aber zugunsten seiner Berufung als Schriftsteller aufgegeben habe (so er selbst). Die Position und Person von Snow wurde in der folgenden Debatte selbst zum umstrittenen Gegenstand. Doch was war es, das so heftige Reaktionen hervorrief?

 

Wichtig ist zunächst, dass Snow zwar sagt, dass er seine Kritik an beide Seiten richte, doch im Laufe des Textes ist seine Parteinahme für die Naturwissenschaft recht deutlich. Sein Ausgangspunkt ist dabei heute nicht so leicht zu verstehen, denn es scheint sich um eine ziemlich spezifische Milieukritik zu handeln. Snows Traditionalisten sind rückwärtsgewandte, selbstgerechte Romantiker, die keinen Sinn für Probleme einfacher Leute haben, keinen Sinn für Fortschritt und Zukunft, sie sind „natural luddites“ („Maschinenstürmer/ Technikfeinde“). Sie sind aus ästhetisch-nostalgischen Gründen gegen jenen technologischen Fortschritt, der „die Armen“ aus ihrer Armut befreien kann. Snow schildert persönliche Erfahrungen, Beobachtungen und Bekanntschaften, die explizit die Grundlage für seine Einschätzung bilden. Deshalb ist seine Zwischenstellung zwischen den Lagern grundlegend.

 

Snow geht auf die zivilisatorischen Wohltaten der Industrialisierung ein, die nach seinem Dafürhalten vollkommen vergessen und literarisch ignoriert seien (hier wird ihm später große Unkenntnis vorgeworfen). Sie ist sein Modell für technologisch-gesellschaftlichen Fortschritt, der quasi von allein geschieht, ohne Lenkung (also Intellektuelle). Snow befasst sich mit Bildung und Bildungssystemen im UK, USA und UdSSR. Er hält es für notwendig und möglich, die Kluft der zwei Kulturen zu schließen und dabei gleich die Welt durch Technologie und Fortschritt zu retten, wenn auch als zivilisatorischen Kraftakt.

 

Die heftigste Kritik kam drei Jahre später vom prominenten und eminent einflussreichen englischen Literaturkritiker F.R. Leavis, einem Enkelschüler Russells. Vorgetragen wurde sie in der ebenfalls renommierten Richmond-Lecture, ebenfalls in Cambridge. Leavis brachte sehr wichtige Punkte zur Sprache, allerdings disqualifizierte er sich (leider) durch seine heftigen persönlichen Anfeindungen. Schäumend vor Wut, in Schärfe und Deutlichkeit kaum zu überbieten geht er in seiner Vorlesung („Two cultures? The significance of C.P. Snow“) den Schriftsteller, seinen Stil, seine Kompetenz, sein Werk, seine Intention, seine Stellung und Person direkt und ad hominem an. Snow wolle sich selbst darstellen und wichtig machen. Er sei ein PR-Mann der Naturwissenschaft. Er habe absolut rein gar nichts verstanden. Nicht einmal ansatzweise könne man ihn als Schriftsteller bezeichnen.

 

Leavis kann nicht akzeptieren, dass Naturwissenschaft eine Kultur sein soll, weil Kultur für ihn ganz stark als „moralische Ressource“ (Kimball) bestimmt ist. Andere Kritiker bezogen sich auf den Kulturbegriff, den Snow unscharf, mehrdeutig und unreflektiert verwendet. Oder auf die Zahl zwei, die Snow selbst nicht so genau nahm – weitere Differenzierungen seien denkbar. Es gab viele begeisterte Reaktionen - von beiden Seiten (beidseitig auch die Kritiken). Es scheint, dass der generelle Zuspruch zu Snow deutlich überwog, sei es auch nur zum Aufwerfen und Ansprechen eines vielfach als drängend empfundenen Problems.

 

Ein interessanter Aspekt der Kritik beschäftigt sich mit Snows Weltsicht unter Berücksichtigung seiner Romane. Ich selbst habe keinen Roman von ihm gelesen, allerdings ist er als Romanautor heute fast vollkommen vergessen. Obwohl damals populär, wurde und wird seine Literatur auch als „unlesbar“ und „träge“ bezeichnet10. Angeblich sind seine Plots und Figurenentwicklungen ähnlich undifferenziert und naiv-anspruchslos wie seine Begriffshandhabung und seine Problementfaltung in der Vorlesung. Seine Figuren sind Stereotype (Yudkin), seine Handlungen plakativ heruntererzählt (Leavis), ohne Tiefe und Hintergrund, eindimensional. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Kritik in Teilen zutrifft, wenn er (was wahrscheinlich ist), seine Romane schrieb wie seinen Vortrag. Letzterer vermittelt außerdem den deutlichen Eindruck, dass Snow z.T. nicht zwischen Autor und Erzähler differenziert.

 

 

Zum soziokulturellen Kontext der Debatte müssen zwei Aspekte betont werden: der britische und der des kalten Krieges. Weite Strecken lang geht es in der Lecture um das englische bzw. britische Bildungssystem, seine Traditionen und das englische Bildungsverständnis allgemein. Die Dinners und Gespräche von Oxbridge. Ein klagender und warnender Ton des intellektuellen (und wirtschaftlichen) Niedergangs zur Zeit des kalten Krieges flicht sich in die Lecture ein, genau 100 Jahre nach „The Origin of Species“, einem historischen Triumph britischer Wissenschaft. Die UdSSR hatte nun gerade den Sputnik ins All geschossen, der technologische Wettbewerb der Nationen und Systeme muss sich existentiell angefühlt haben. Snows Wunsch, die ganze Welt durch massenhafte Ausbildung von Ingenieuren zu erlösen, war zwar schon damals bizarr, muss aber wirklich als Äußerung von 1959 verstanden werden.

 

Das führt zu Snows Begriff von Bildung und der Kritik daran. Snow sucht Vergleiche. Auf geradezu naturwissenschaftliche Weise rastert, quantisiert und katalogisiert er, oder fühlt sich zumindest dazu verführt. Die Naturwissenschaftler hätten keinen Dickens gelesen, die Literaten könnten nicht Masse oder Beschleunigung definieren, das sei ungefähr äquivalent11. Der positivistische Impetus ist deutlich. - Die Frage, ob man Shakespeare gelesen habe, oder nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, sei doch ungefähr das Gleiche. Leavis widerspricht. Es gebe kein Äquivalent12. Und er setzt hier an mit einem Konzept der Menschenbildung und der Bedeutung von Literatur über Profession und Pragmatik hinaus; nämlich als Selbst- und Fremdreflexion, als Bereicherung im Werden als Person und als Horizontbildung (man denke an Humboldts Bildungsbegriff). Das ließe sich nicht vergleichen. Ähnlich hat der Biochemiker Yudkin Snow aufgefasst:

 

Wenn Kommunikation für Sir Charles eine abstrakte unpersönliche Angelegenheit ist, dann ist Bildung ein abstraktes, quantitativ bestimmtes und gleichermaßen unpersönliches Geschäft. Die Unterscheidung zwischen Wissen und Entwicklung der Persönlichkeit scheint er nicht zu treffen. Er scheint sich nie zu fragen: wozu dient das Wissen? Für ihn ist ein gebildeter Mensch einer, der eine Menge weiß, und ein noch gebildeterer einer, der noch mehr weiß. Das Erwerben von Kenntnissen ist offenbar Selbstzweck, oder, wie er in anderem Zusammenhang sagt: „Eine Tatsache ist eine Tatsache ist eine Tatsache.“13

 

Dass eine Tatsache mehr ist als eine Tatsache, heißt nicht, dass sie keine Tatsache ist. Letzteres behaupten jene, die an genau dieser Stelle das Unheil des notorisch lügenden Präsidenten heraufziehen sehen und dafür „die Postmoderne“ verantwortlich machen. Es sei wiederholt: Wer Snows naiven Positivismus kritisiert, sagt nicht, dass es keine Fakten und nichts Gewusstes gibt und spricht auch nicht den Naturwissenschaften Wert und Wissen ab, sondern macht sich vielleicht ein paar mehr Gedanken darüber, was Fakten eigentlich sind. Gerade Trump ist ein gutes Beispiel für jemanden, mit einem ähnlich positivistischen Bildungsverständnis. Wissen ist für ihn quantitativ, er hat „the best words“ und er weiß „more about (beliebiges Thema einfügen14) than anybody“.

Im übrigen gilt Snows Wort vom Faktum nicht mal für die so präzisen Naturwissenschaften: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose, ist RNS, DNS, polypeptide Ketten von Aminosäuen...“15 - Was ist eine Rose? Wie funktioniert sie? Hier setzt die Naturwissenschaft erst an! Hier beginnt, was forschen heißt: Das ist nicht das Vorzählen von Tautologien, sondern das Fragen und Zerteilen (Ratio). Dieser ganze Punkt stößt uns freilich auf das Thema Sprache und Beschreibung, zu dem wir später noch kommen werden.

 

Leavis described C. P. Snow as a “portent” of our civilization because, in his view, Snow’s argument epitomized modern society’s tendency to trivialize culture by reducing it to a form of diversion or entertainment. It provides us with no moral challenge or insight, because the only serious questions are how to keep increasing and effectively distributing the world’s wealth, and these are not questions culture is competent to address.16

 

Snow scheint keinen Wert von Kultur an sich zu erkennen. Das gute Leben ist nur messbar an Wohlstand. Den bringt die Naturwissenschaft. Literatur und Kunst ist mehr Accessoire, ein Nice-to-have, ein Schmuck, Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung. Das geht diametral gegen alles, wofür Leavis sein Leben lang gearbeitet hat – Literatur als Medium, Auseinandersetzung, Reflexion von Menschsein. Also auch Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem eigenen Leben (wie soll/ will ich leben?) auf individueller und sozialer Ebene.

 

Auch heute noch wird Snows Debatte (zu der er lediglich den Auslöser beitrug, was den, auch emotionalen, Stellenwert des Themas deutlich macht) immer wieder aufgenommen und die Frage neu gestellt: Welches Wissen wollen und brauchen wir; wer versteht wen (nicht); welches Wissen ist legitim (also überhaupt Wissen); und wie organisieren wir unsere Bildungssysteme? Ist Kunst und Kultur vielleicht doch wichtig für Technologie bzw. deren Curricula?16a

 

 

 

Häufig ist die Klage zu hören, die Naturwissenschaft sei nun von der Gesellschaft insgesamt mittlerweile noch stärker entfremdet, das Unverständnis habe seit Snow noch zugenommen18. Einerseits stimme ich zu, andererseits nicht: Ja, Naturwissenschaft ist noch viel abstrakter geworden und der Wunsch der Menschen nach Wahrheitswert der Privatempfindung vielleicht noch stärker. Vor ein paar Jahren hätte niemand für möglich gehalten, dass Flach- und Hohlweltler noch einmal solchen Zulauf erhalten werden. Kreationisten spielen in den USA eine große Rolle, errichten Schulen und Museen. Auch dass es möglich sein kann, solch überwältigende Evidenz und Konsens wie beim menschengemachten Klimawandel aus Gründen des politischen und privaten Komforts zu ignorieren, ist erstaunlich. Hier haben Leute nicht verstanden, wie Wissenschaft funktioniert. (Vorsicht! An dieser Stelle ist eine Wegkreuzung. Hier fangen Viele an, postmoderne Denkansätze und willkürliche Verschwörungstheorien in einen Topf zu werfen. Dazu unten mehr.) Wissenschaft ist keine Meinung und kein Glaube, dem man seine eigene private Überzeugung willkürlich entgegenstellt. Nicht eine Wahrheit unter vielen. Und die alte Klage in und nach der Snow-Debatte, es gebe in der Politik kein Verständnis für und von Naturwissenschaft19 und keine Lobby ist immer noch angemessen. Auf der anderen Seite stellt der Großteil der Gesellschaft Naturwissenschaft nicht nur nicht infrage, sondern mehr als jemals zuvor dient sie als Modell für Wissen schlechthin. Ich glaube, es ist keine Übertreibung und kein Jammern, zu sagen, Geisteswissenschaften sind mittlerweile recht marginalisiert20. Verglichen mit diesen gibt es für die Naturwissenschaft wenig über Anerkennung zu klagen. Jeder versteht, dass wir Dinge und Theorien entwickeln und unsere Umwelt erforschen müssen, schon um des Wohlstandes willen (die neueste Technik winkt). Dass man verstehen will, was man anfassen kann oder sieht. Auch Gesundheit und medizinische Forschung leuchtet sofort ein. Aber die Notwendigkeit von Philosophie, Geschichte, Literatur, Kunst, Musik steht für uns heute auf einem ganz anderen Blatt. (Das Blatt liegt mittlerweile in der Schublade). Unsere soziale Umwelt zu verstehen, unsere Gesellschaften, Staaten, Historien und uns selbst – das ist niemals abgeschlossen und nie einfach definiert und gelöst wie eine Gleichung. Diese Antworten sind von einem anderen Wesen (wie schon Dilthey und Weber formulierten). Das scheint Snow nicht verstanden zu haben21. Kultur ist in der allgemeinen Wahrnehmung oft Luxus und Unterhaltung, nicht mehr.

 

Dann gibt es natürlich noch Bereiche der Kunst, die auf viele ebenso elitär wirken wie die hochspezialisierten Naturwissenschaften. Neue Musik, abstrakte Malerei, Objektkunst – abgehoben, sagt man, Selbstbeweihräucherung eines kleinen abgedrehten, privilegierten Kreises.

 

Im Zuge der intensiveren Beschäftigung mit Snow fand ich es mehr und mehr erschreckend deutlich, dass wir – so mein Eindruck – in einer klar Snowisch geprägten Zeit und Gesellschaft leben22. Ich habe schon einmal den Primat von Wissensakkumulation in der Schule kritisiert, zulasten von Persönlichkeitsbildung, Horizontweitung und Reflexionsvermögen. Aber das generelle Verständnis/ Standing von Kunst, Kultur und Geisteswissenschaften in der Gesellschaft kommt hinzu. Gerade weil Snow es so unbewusst mitschleift, kann er wie eine heutige Stimme tönen, für die materieller Wohlstand und ein Wissensbegriff der Zählbarkeit grundlegend sind, und die sich dann über Verrohung der Sitten in der Schule, stumpfen Konsumismus, Orientierungslosigkeit und Identitätskonflikte wundert.23

 

Andererseits gibt es aber auch den Aktivismus (inkl. theoretischen Unterbau), der sich z.B. ganz besonders auf Sprache bezieht, auf Perzeptionen, Identitäten und Ausdruckskulturen des Umgangs miteinander (Identitätspolitik). Seine Themen sind queer-feministisch, antirassistisch, postkolonial, körperbezogen uvm. Er wird oft lächerlich gemacht. Er wird als unpragmatisch und ideologisch gezeichnet, weltfremd gar, elitär. Er wird als unverständlich, nicht nachvollziehbar, oft genug idiotisch dargestellt. Als intolerant und bigott. Er sei extrem egozentrisch. Eine Mode. Und unempirisch. Und wissenschaftsfeindlich. Und antiaufklärerisch.

 

Er ist durch und durch postmodern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joseph Wright of Derby:

An Experiment on a Bird in the Air Pump, ca. 1768

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3 Cassirer 1942: 35f. Vgl. auch unten Feyerabends Relativismus.

 

4 Kruse/ Barrelmeyer.: Max Weber zur Einführung: 39.

 

 

5 Knoblauch: Wissenssoziologie: 80.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6 Kruse/ Barrelmeyer: 45. H.i.O.

 

 

7 Die Sozialwissenschaften profitieren dabei aber mehr vom wirklichkeits-wissenschaftlichen Zugang. Auch setzt hier das Erklären ein Verstehen voraus. Deswegen hat der Begriff des Sinns bei Weber solchen Stellenwert und deswegen spricht er von verstehender Soziologie, die eine spezifisch deutsche Tradition hat.

 

8 Vgl. z.B. Susan Hekman: Hermeneutics and the sociology of knowledge.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

9 Culler bei Hekman: 9. Dort mehr zu diesem „anti-foundational“ Ansatz. All diesen Vertretern wurde der Status als Philosophen und Wissenschaftler verschiedentlich abgesprochen und/oder von ihnen selbst infrage gestellt und problematisiert. Für diese Überwindung argumentiert übrigens auch Latour (s.u.).

 

 

 

University of Cambridge

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

11 Dazu vgl. Yudkin in: Helmut Kreuzer (Hg.): Die zwei Kulturen: 98f. Er betont den Unterschied zwischen Erleben (eines Kunstwerks), das Wert an sich haben kann - im Gegensatz zum Aneignen faktischer Information. Wichtiger als naturwissenschaftliches Wissen wäre für Nicht-Naturwissenschaftler „ein Verständnis des Prozesses und der Methode naturwissenschaftlichen Denkens; denn es ist das Wesen naturwissenschaftlichen Urteilens, die beständige Ausübung einer besonderen Art kritischen Denkens, was die szientistische Kultur charakterisiert“. Aber Snow geht quantitativ von Wissen aus.

 

12 Kimball fasst zusammen: „The second law of thermodynamics is a piece of specialized knowledge, useful or irrelevant depending on the job to be done; the works of Shakespeare provide a window into the soul of humanity: to read them is tantamount to acquiring self-knowledge. Snow seems oblivious to this distinction.https://www.newcriterion.com/issues/1994/2/aoethe-two-culturesa-today

 

13 In: Die zwei Kulturen: 102.

 

14 https://www.axios.com/everything-trump-says-he-knows-more-about-than-anybody-b278b592-cff0-47dc-a75f-5767f42bcf1e.html

 

15 Aldous Huxley in: Die zwei Kulturen: 171. Sein Punkt ist, dass sowohl Literatur als auch Naturwissenschaft Sprache nicht wie im Alltag gebrauchen, sondern ihren Zwecken gemäß gereinigt und eindeutig oder mehrdeutig und assoziativ.

 

16 Kimball aao.

 

16a Vgl. Green: 102ff.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

18 Und durch nochmal massiv zugenommen habende Spezialisierung gebe es auch mehr Spaltung innerhalb der Wissenschaften. Snow hat beides bereits kommen gesehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

19 Siehe auch den Beitrag von Mohr in: Die zwei Kulturen oder meinen Artikel Expertenregierungen.
20 Vielleicht abgesehen von solchen schwer zuzuordnenden Disziplinen wie Psychologie, Jura oder Ökonomie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

21 Viele andere auch. Steinbuch z.B. spricht von „Luxusfunktion“. Vgl. auch https://www.wired.com/2011/10/intellectual-vs-engineer/.

 

 

 

22 Heute verlaufen jedoch die Grenzen ganz anders, als es sich Snow vorgestellt hat. Eine Reihe Regime (China, arabische Staaten) haben mithilfe von Industrie und Technik großen Wohlstand geschaffen, aber unterdrücken Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte. China investiert Milliarden in KI um den Überwachungsstaat zu perfektionieren. Siehe auch Amnesty Journal 3/2019.

 

23 Aber hüten wir uns vor Romantik. Hilde Domin hat freilich Recht, niemand ist generell ein oder wird ein „besserer Mensch“ durch Musik oder Literatur. Das müssen wir festhalten.


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3.

Snow hat nichts gelöst. Er war und ist bis heute vor allem bei Naturwissenschaftlern beliebt24. Doch trotz seines nachhaltigen Einflusses hat sich nichts geändert. Wie eben angedeutet geht der allgemeine Tenor eher in die Richtung, es sei schlimmer geworden.

 

Der angelegte Konflikt jedoch sollte ein knappes halbes Jahrhundert später noch einmal richtig explodieren. Die Debatten und politischen Kulturen – siehe Trump, Identity Politics und die Rhetorik der globalen neuen Rechten – sind nachhaltig und bis heute davon geprägt.

 

In der Philosophie und Geisteswissenschaft ist die Frage nach den Voraussetzungen der eigenen Erkenntnis Gang und Gäbe. Jede Theorie muss sich quasi in sich selbst einfügen. Die Naturwissenschaft kann die Frage so nicht stellen. Sie geht aber von der Objektivität der Realität bzw. der Überprüfbarkeit von Daten und Experimentalergebnissen aus. Das heißt, der Standpunkt, das Subjekt und das Wissen selbst wird jenseits des Experimentes nicht thematisch, außer – ja außer man widmet sich „den Quanten“.

 

Und damit sind wir bereits bei der berühmten Sokal-Affäre.

 

Alan Sokal ist Physiker und Mathematiker. 1996 schickte er einem kleinen amerikanischen Journal, das auf postmoderne Philosophie spezialisiert war, einen Artikel, der folgende Merkmale hatte:

  • sein Thema war eine Verknüpfung von Quantenphysik, Hermeneutik und Politik

  • er operierte mit Begriffen der postmodernen Philosophie, imitierte ihre Sprache und ihren Duktus25

  • er bestätigte die wesentliche Perspektive postmoderner Philosophie

  • er stammte von einem renommierten Physiker

  • er war eine Fälschung

Keine Fälschung im Sinne der Urheberschaft, sondern im Sinne von Zweck und Inhalt. Sokal wollte die Aufmerksamkeit auf die Verwendung naturwissenschaftlicher Termini und Konzepte lenken, die seiner Meinung nach im Poststrukturalismus falsch (also nicht im ursprünglichen Sinne) verstanden und verwendet wurden. Es war also eher eine Collage von Begriffen, Zitaten und Gemeinplätzen sowie merkwürdiger Schlussfolgerungen, von ihm selbst als Parodie bezeichnet26.

 

Was geschah?

 

Das Journal verlangte Nachbesserungen und Änderungen, die Sokal aber vehement ablehnte27. Es gab kein Peer-review durch Fachleute aus der Physik, der Artikel wurde nach einigem Zögern veröffentlicht. Wenige Tage später deckte Sokal seinen Streich in einer anderen Zeitschrift auf. Natürlich kam es darauf hin zu Debatten, die in Artikeln hin und her gingen. Sokal und viele Sympathisanten frohlockten, eine Disziplin sei demaskiert worden. Nichtsdestotrotz hat Sokal sich selbst als Linken eingeordnet, der nicht wolle, dass fundierte Gesellschaftskritik durch Pseudo-Wissenschaft gefährdet werde. Die Wissenschaftssoziologie habe sich in seinen Augen Verdienste erworben. Manche wiesen darauf hin, dass Sokal lediglich gezeigt habe, dass das Journal eine Querprüfung durch Quantentheorie-Fachleute versäumt habe, sonst nichts. Schlechte Überprüfungspolitik gibt es selbstredend auch in naturwissenschaftlichen Zeitschriften, es gibt Schummeleien, Ungenauigkeiten und sogar immer wieder Betrug (es geht ja auch um hohe Forschungsgelder, Karrieren oder Produktentwicklung)28. Im medizinischen und pharmazeutischen Bereich kann das auf ganz handfeste Weise schädlich bis lebensgefährlich sein. Ich verzichte auf eine Auflistung vergangener Skandale.

 

Die Herausgeber sprechen in ihrer offiziellen Reaktion auf die Affäre und mit Bezug auf die Stellung der Naturwissenschaft in der postmodernen Philosophie auch von „centuries of scientific racism, scientific sexism, and scientific domination of nature“. Sokal tut den ganzen Absatz ab mit den Worten, es sei hier alles durcheinandergeraten und vermischt, damit könne und wolle er sich nicht beschäftigen.

 

Dabei ist dies der Knackpunkt, warum und wie Naturwissenschaft in der Postmoderne behandelt wird – nämlich zumeist als normsetzende Machtinstanz. Die Wissenschaft lässt sich eben nicht vom sozialen Umfeld abkoppeln. Man kann heute tausend mal sagen und beweisen, dass Schädelform oder Hautfarbe nichts mit Intelligenz zu tun hat, in der Nazizeit war das anerkanntes Wissen, es konnte in dieser Gemeinschaft unter deren Maßstäben „bewiesen“ oder als solches ausgegeben werden. Verstehen kann man Vorgänge dieser Zeit nur unter dieser Prämisse. Weber winkt (s.o.). Die Wissenschaft hat auch gesagt, Frauen seien per se hysterisch, die Natur gelte es zu unterwerfen und der Mensch sei die Krone der Schöpfung (ja, das war damals ein wissenschaftliches Statement, wenn auch ein wertendes). Und außerdem kreise die Sonne um die Erde. Darüber, dass sich Wissenschaft ändert, ihre Inhalte, aber auch ihre Methoden, Quellen, Bezüge (Aristoteles, Bibel, Experiment) und ihr gesellschaftliches Umfeld, muss man reden. Das ist mit Konstruktion gemeint. Was wann und wie gesagt wird (werden darf) ist eben durchaus abhängig von Zeit- und Machtumständen, denken wir an die Situationen Brunos, Galileis, Kopernikus'. Kuhn hat das detail- und kenntnisreich dargestellt anhand der sich abwechselnden wissenschaftlichen Paradigmata. Neue Paradigmata (Kopernikus, Newton, Einstein, Bohr) setzen sich durch in scientific communities (Schulen) und unter Maßgabe scheinbarer Nebensachen wie Zeitschriften, mediale Verbreitungsmittel, Gruppenkommunikation, Renommee oder Bekanntheitsgrad der Akteure. Denn oft geht es darum, welches der ähnlich effizient problemlösenden Paradigmata sich unter den Wissenschaftlern als anerkannt durchsetzt. Dies gilt dann als wahr. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit. Die aktuelle und schon lang anhaltende Stagnation in der theoretischen Physik und die Wucherung an unbewiesenen Theorien zeigt das gut29.

"Flammarions Holzstich" 1888
"Flammarions Holzstich" 1888

 

 

Angeregt worden war Sokal durch ein Buch, das Anfang der Neunziger für Aufsehen sorgte: Higher Superstition. The Academic Left and Its Quarrels With Science von Gross und Levitt. Schon hier wird der Gebrauch naturwissenschaftlicher Konzepte in poststrukturalistischen Theorien angeprangert, sowie die Einordnung naturwissenschaftlicher Erkenntnis als sozial konstruiert überhaupt. Dieses Buch und auch die Sokal-Affäre sind Teil der sog. Science Wars dieser Zeit, ein Streit um das Wesen von und den Umgang mit Naturwissenschaft, gerade im Verhältnis zu Geisteswissenschaften - besonders Philosophie, besonders postmoderner Philosophie.

 

Sokals Experiment war nicht das erste und nicht das letzte dieser Art, andere sind sogar besser konzipiert, dokumentiert und ausgewertet worden. Da es aber gerade im Kontext dieser Debatten zu dieser Zeit um die sehr verdächtige postmoderne Philosophie ging, gibt es bis heute keine Falschveröffentlichung, die ein derartiges Echo hervorrief.

 

Besonders Quantenphysik ist heute ein Thema, das immer wieder außerhalb der Physik den eigenen Zwecken gemäß benutzt, ja instrumentalisiert wird - von Theologen, Metaphysikern, Esoterikern, Para-wissenschaftlern usw. ohne ein tieferes (d.h. physikalisches) Verständnis dieser komplizierten Materie zu besitzen30. Das liegt freilich an seiner populärwissenschaftlichen Prominenz (ähnlich der der Relativitätstheorie) und geheimnisvollen Stellung als Antipode (bzw. Komplement) zur klassischen, man müsste sagen nach gesundem Menschenverstand funktionierenden Physik. Diese bis heute andauernde, sich eher verstärkt habende Kultur des einfältigen Bezugs auf Quantenphysik hat sicher zum Unmut der physikalischen Community beigetragen.

 

Die Science Wars waren im Grunde ein folgerichtiger Konflikt um die Bedeutung von Begriffen wie objektiv, wahr, real, Wissen, oder auch Fakt und Wissenschaft. Nach Popper und Kuhn hatte man sich in den Sozialwissenschaften immer mehr mit Naturwissenschaft auseinandergesetzt und zwar durchaus mit dem oben angedeuteten kritischen Blick auf das Zusammenspiel von Wissenschaft, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Individuum. Einige Naturwissenschaftler fühlten sich diskreditiert, angegriffen und die Objektivität ihrer Erkenntnisse, Methoden und Profession infrage gestellt. Besonders das Übernehmen von naturwissenschaftlichen Begriffen (vielleicht als Metapher, vielleicht nicht) wurde ihnen zum Ärgernis. Als Kritik daran erregte Higher Superstition 1994 großes Aufsehen und löste die ganze Debatte aus. Diese spielte sich in Veröffentlichungen, aber auch auf Konferenzen und Tagungen ab, die immer wieder organisiert wurden. Übrigens wurde dabei immer wieder auf die Snow-Debatte Bezug genommen.

 

 

5. Solvay-Konferenz, 1927; grundlegend für die Entwicklung der Quantentheorie

 

 

 

 

 

Der wichtigste Name in der Tradition jener, die Naturwissenschaft deutlich infrage stellen, dürfte indes Paul Feyerabend sein, Wissenschaftstheoretiker und ein Schüler von Popper31. Feyerabend kam bei seinem intensiven Studium der Geschichte der Wissenschaft zu einer Erkenntnis, die der von Kuhn ähnlich ist, aber noch weit über sie hinausreicht: Ob und wann und wo sich Wissen und Erkenntnis, Paradigmata und Theorien durchsetzten und etablierten, war/ist nach Feyerabend derart arbiträr und von Zufällen, Außenseiterfiguren, sogar Gewalt abhängig, dass man Poppers Kriterium der Methode, Ratio und Falsifikation unmöglich aufrechterhalten könne (Against Method 1975). Oft sei das neue Wissen gar nicht falsifizierbar, sondern ein Weltbild, das sich einfach zeitgemäßer und sinnvoller anfühle. Doch Feyerabend ging explizit noch weiter, indem er jeden Unterschied zwischen Weltanschauungen, Religion und Wissenschaft zurückwies und die unbekannte Macht von Bewusstsein, Wahrnehmung und Geist zur Gewähr heranzog. Diese Position kann man auch als wissenschaftstheoretischen Anarchismus bezeichnen. Damit war er ein kalifornischer Philosoph des New Age geworden. Das hatte allerdings echte politische Hintergründe. Für ihn war „der Westen“ als Gemisch von Kapitalismus, Staat, Rationalismus und Wissenschaft eine Form der Unterdrückung all jener anderen Sichtweisen, die es auf der Welt gab und gibt. Man müsse sich gegen die Kirche und dann auch genauso gegen die Wissenschaft (d.h. den Westen und seinen Hegemonieanspruch) entscheiden können und dürfen. Eine spannende Umkehr des positivistischen Gedankens, die Naturwissenschaft sei urdemokratisch und egalitär, weil sie allen offenstünde und von allen nachprüfbar sei (was freilich eine entsprechende Ausbildung voraussetzt). - Nach Feyerabend ist sie es eben nicht, weil auch sie ein Produkt, eine Praxis und ein Begründungsinstrument ist, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort von bestimmten Menschen entwickelt und etabliert wurde, und anderen - sagen wir aus Verlegenheit mal „Anschauungen“ - von anderen Menschen mit anderen Interessen, Prioritäten und Argumentationen entgegensteht32. Es gibt hier quasi kein richtiges Leben im falschen.

 

Feyerabend war in der Linken und in der Esoterik sehr einflussreich, aber er wurde natürlich auch verspottet und bekämpft.

Ich muss gestehen, dass ich die späteren postmodernen Veröffentlichungen mit Wissenschaftsbezug im Amerika der 80er und frühen 90er nicht gut kenne. Deswegen werde ich die vorgebrachte Kritik nicht beurteilen. In Higher Superstiftion werden Beispiele genannt und in ihrer Verwendung betrachtet. Allerdings hat es – natürlich – auch daran Kritik gegeben, quasi aus denselben Gründen gespiegelt: Die Autoren hätten schlecht recherchiert und die Konzepte gar nicht verstanden, die sie kritisieren.

 

Der Ton der Debatten der folgenden Jahre war gesetzt - und letztlich war das ein Ton, der z.T. bis heute anhält. Das Milieu des Postmodernen ist bei Vielen endgültig diskreditiert, sei es die Philosophie, politische Forderungen, gewisse Wortwahl oder akademische Disziplinen. Das ist eine wichtige Komponente der Gemengelage, die zu Trumps Wahl und Popularität führt. Geschehen konnte das letztlich durch den erweckten Eindruck, in diesem Geistesmilieu habe man sich ins sinnlose Spielen mit Worthülsen verstiegen, die gar nichts bedeuten, sondern nur der Eitelkeit einiger Narren dienten. Alan Sokals Bücher trugen ihren Teil dazu bei, z.B. Imposture intellectuelles 1997, (Fashionable Nonsense. Postmodern intellectuals’ abuse of science) oder Beyond the hoax: science, philosophy and culture 2008.

 

Ironisch schreibt Sokal in seinem Fake-Artikel: „Finally, the content of any science is profoundly constrained by the language within which its discourses are formulated; and mainstream Western physical science has, since Galileo, been formulated in the language of mathematics. But whose mathematics?

Damit nimmt er natürlich aufs Korn, wie Mathematik etwas anderes sein könnte als Mathematik33. Und damit etwas anderes als Abbild der/von ~Realität. Der Inhalt einer Formel ist freilich unabhängig von der Sprache oder den Zeichen, in der er ausgedrückt wird. Zwar muss es vorher Definitionen geben, damit die Formel als Ausdruck dienen und verstanden werden kann. Auch Wahl der graphischen Symbole und Stellenwertsystem deuten auf Hintergründe kultureller Entwicklungen, Austausche und Hegemonien hin. Aber selbst bei Versuchen der Kommunikation mit Außerirdischen setzt man berechtigt auf Mathematik. Dabei stellt sich freilich die Frage der Medialität. Wie lässt sich Mathematisches unzweideutig formulieren, also aufschreiben bzw. per Radioteleskop senden? Es klingt trivial, aber das ist es nicht. So ganz leicht lassen sich auch für die Mathematik Form und Bedeutung (d.h. Voraussetzung/ Konvention) nicht trennen. An dieser Stelle räuspert sich schon die Logik.

 

 

Sokal sagt später noch, jeder, der an der Objektivität der Naturgesetze zweifele, könne ja bei ihm im soundsovielten Stock mal aus dem Fenster spazieren. Ich finde das irritierend, weil man ja dann nicht mit den Naturgesetzen in Berührung kommt, sondern mit der Ursache ihrer Formulierung. Aber ich denke genau hier ist ein neuralgischer Punkt erreicht. Für Naturwissenschaftler ist das, was sie aufschreiben, die Realität. Aus geisteswissenschaftlicher Sicht handelt es sich dabei um ein Aufschreiben und Formulieren, dessen Referent in den Geisteswissenschaften oft genauso wenig von Gewicht ist, wie die Frage, ob Moses tatsächlich Gesetze auf Steintafeln von seinem Gott ausgehändigt bekam oder die Arche auf dem Ararat landete34. Entscheidend ist die soziale Realität und Wirkmächtigkeit dieses Ereignisses, sei es – je nach Standpunkt – fiktiv, real, unentscheidbar oder sonstiges. Man spricht auch von einer sozialen Tatsache. Sokal würde jetzt auf die Stringenz und Gesetzmäßigkeit naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns hinweisen. Und wenn dem entgegnet wird, dass andere Bereiche in sich genauso stark geschlossen sind – nämlich Religionen – und als soziale Tatsachen ungeheuer wirkmächtig sind – sind wir dann bei Feyerabend oder an dem fatalen Punkt absoluter Relativität, an dem man nach Gusto den Klimawandel leugnet und den lügenden Präsidenten hat, dessen Falsch genauso gut ist wie eines Anderen Richtig?

 

Diskurstheoretisch lässt sich gut formulieren, dass wir ja nie nur in einem Rahmen situiert sind und handeln. Kein Mensch ist nur WissenschaftlerIn, jeder Mensch ist auch Mensch, mit Gefühlen, Bedürfnissen und einem Körper. Das war schon oben bei Snow Thema. Es gibt beispielsweise kaum noch Menschen, die alles religiös beziehen und erklären (können). Jedes Auto oder Flugzeug, in das man steigt, ist ein Manifest der grundsätzlichen Gültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Unsere spätneuzeitliche Art zu denken ist unentrinnbar dieser Form des Nachvollzugs verpflichtet. Umgekehrt gibt es unzählige NaturwissenschaftlerInnen, die religiös sind35, vielleicht tiefreligiös, und in der Komplexität und dem Aufbau der Natur die Genialität einer Schöpfung erkennen. Trotzdem forschen sie freilich auf logische und nachvollziehbare Art, nicht anders als alle anderen auch.

 

Das heißt im Endeffekt, dass ich als Mathematiker meine Liebesbriefe nicht berechne, mich als Pfarrer beim Autofahren nicht einfach auf Gott verlasse und als Soziologin den Betrag in meiner Steuererklärung nicht sozial herleite36. Man kann es kurz fassen: Ich kann methodisch begründet den Ursprung von „Wissen“ aufweisen, im Rahmen meiner Wissenschaft, und dieses Wissen trotzdem pragmatisch nutzen und anerkennen (z.B. in Fragen des Klimawandels). Die meisten Christen und Juden befolgen bei Leibe nicht alle oder auch nur viele Vorschriften aus ihren heiligen Büchern und übrigens auch sehr viele Muslime nicht. Weil sie zwischen Alltag und Religion unterscheiden. Und fast alle Menschen nutzen komplizierte elektronische Geräte, ohne im mindesten erklären zu können, wie sie funktionieren. Das heißt, sie wissen, dass es funktioniert, aber nicht warum. Das gilt in der Wissenschaft auch für viele Phänomene der Astronomie oder theoretischen Physik. Dass auch Konstruiertes real im Sinne von wirkmächtig ist, sehen wir auch an den präsidentiellen Lügen und Kommentaren jeden Tag. Entscheidend ist nicht (nur) wie konsistent ein System in sich ist, sondern auch, ob und wie wir es mit anderen Systemen vereinbaren (wollen). Die Verabsolutierung von Religion ist Fundamentalismus, und idiotisch ob unserer Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt. Die Verabsolutierung von Naturwissenschaft wäre unmenschlich, entwertend und unmöglich, solange man empfindet37.

 

 

 

 

24 Man kann sich allerdings des Eindrucks kaum erwehren, dass sie mit Snow vor allem beklagen, nicht ausreichend Gehör und Anerkennung zu finden, und kaum je, dass sie selbst mehr Shakespeare lesen sollten (obwohl das vorkommt). Bei den Geisteswissenschaften, im Journalismus und im publizistischen Kreis scheint mir die Auseinandersetzung – ihrer Profession gemäß – etwas differenzierter, wenn auch dort – ebenso – nur wenige für mehr Naturwissenschaft im eigenen Milieu argumentieren. Hat Snow vielleicht diesen Effekt sogar verstärkt und einen Wald aus Zeigefingern gepflanzt?

 

 

 

 

 

 

 

 

25 Z.T. heißt es, er habe „Versatzstücke aus Texten … zusammengemixt.“ (Schroer: 435) von Leuten wie Baudrillard, Deleuze, Kristeva, Irigaray oder Latour.

 

 

 

 

 

 

 

27 Die Reaktion der Herausgeber auf den Skandal und Sokals polemische Antwort unter http://linguafranca.mirror.theinfo.org/9607/mst.html.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

28 Es sei zum Beispiel die Bogdanoff-Affäre erwähnt. Die zwei Brüder und theoretischen Physiker, Bestsellerautoren, die im französischen Fernsehen populärwissenschaftliche Sendungen moderierten, hatten ihre Doktorarbeiten bereits veröffentlicht (mit Peer-review). Diese wurden später als Unsinn eingestuft, ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert. Eine weitreichende Affäre entspann sich, die viele juristische und akademische Details betraf. Auch hier wird wieder deutlich, wie wichtig das ist: Was wird von wem mit welcher Reputation und durch welche geregelten Verfahren anerkannt, und wer überprüft mit welcher Gründlichkeit? Das entscheidet nicht über die Welt, aber über das, was wir von der Welt wissen (oder zu wissen glauben), und wer im Fernsehen uns was erzählen darf und damit „Wissen“ schafft und verbreitet. Die Bogdanoff-Brüder haben aber auf ihre Inhalte bestanden und darauf, keine Betrüger zu sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

29 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Kuhn zum Teil instrumentalisiert gefühlt hat. Durchaus gehe er von einer wissenschaftlichen Wahrheit aus, es seien nicht alle Beschreibungen gleichrangig. http://blogs.scientificamerican.com/cross-check/what-thomas-kuhn-really-thought-about-scientific-truth/ Auch wir können heute sagen: das mit der Erde und der Sonne ist abschließend geklärt (auch wenn wir noch immer von Sonnenauf- und -untergang sprechen). Trotzdem ist die Wissenschaft als Beschreibung der Welt von ebenjener zu trennen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

30 „Die Quanten“ bieten viele Möglichkeiten. Auch in der Physik selbst wird viel überlegt (ich kann das nicht einschätzen), besonders in Richtung Bewusstsein, Geist, Seele usw. Ich habe dazu keine richtige Meinung, eher den Verdacht, dass man zu viel erklären will. Spannende Artikel dazu aber z.B. hier:

https://www.welt.de/wissenschaft/article1938328/Die-Seele-existiert-auch-nach-dem-Tod.html

 

https://blogs.scientificamerican.com/observations/quantum-monism-could-save-the-soul-of-physics/

 

https://blogs.scientificamerican.com/observations/physics-is-pointing-inexorably-to-mind/?utm_medium=social&utm_content=organic&utm_source=twitter&utm_campaign=SciAm_&sf209891526=1

 

https://www.nytimes.com/2019/09/07/opinion/sunday/quantum-physics.html

 

https://iopscience.iop.org/article/10.1088/0143-0807/30/4/014/meta

 

https://www.youtube.com/watch?v=CBLVtCYHVO8

 

 

 

 

 

 

 

31 Im Folgenden beziehe ich mich stark auf: https://geschichtedergegenwart.ch/anything-goes-paul-feyerabend-und-die-etwas-andere-postmoderne/

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

32 Das ist natürlich auch ein postkolonialer Diskurs.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

33 Dabei ist Mathematik als Sprache ja doch mehr als eine Metapher. Es ist durchaus von Relevanz, wer wann und wo die Ressourcen hat, diese Sprache zu lernen und zu welchem Zweck. Und das führt dazu, was wann wo von wem bestimmt als wahr gilt. In der Antike ist astronomisches Wissen oft spezifischen Kasten und Ständen zugeordnet, üblicherweise Priestern und religiösen Spezialisten.

 

 

 

 

 

Cristiano Banti: Galileo Galilei davanti all'Inquisizione (1857)

Galilei schrieb bekanntlich, dass das Buch der Natur in der Sprache/ den Zeichen der Mathematik verfasst sei. Nur mit ihrer Kenntnis, nur durch Lernen dieser Sprache, ließe es sich verstehen (Saggiatore Abschn. 6).

Für die Inquisition hingegen gab es keine solche Objektivität, sondern andere Maßstäbe. Galilei musste den Dialogo  wiederrufen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

34 Theologie zähle ich hier nicht zu den Geisteswissenschaften.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

35 Siehe. z.B. auch „anthropisches Prinzip“.

 

 

 

 

 

 

36 Das sind Handlungs-, Sinn- oder Interaktionsrahmen, wie sie z.B. Schütz, Goffman oder Berger & Luckmann sorgfältig ausgearbeitet haben. Die Idee ist freilich älter und findet sich schon bei James oder Simmel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

37 Freilich lassen sich Gefühle z.B. ins Biochemische übersetzen. Aber das ist eine Metonymie. Der Stoff mag der Strukturformel entsprechen, und die Hirnaktivität einer Leistung von Neuronen, jedoch nicht das Empfinden. Hardware erklärt keine Software. Hier schließt das Leib-Seele-Problem an.


 

Nachbemerkung zum Artikel:

 

Ich bin mal wieder viel zu spät. Und etwas weitschweifig. Ich habe diesen Aufsatz zu großen Teilen zu Beginn der Regierungszeit Trumps geschrieben und wollte ihn dann noch verbessern, Verschiedenes ergänzen und ca. eine Million gesammelte Quellen einarbeiten. Mittlerweile ist Trump nicht nur abgewählt, sondern schickt sich bereits an, erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren. Vor kurzer Zeit ist er offiziell angeklagt worden, de Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Die Lügnerei und Faktenfragen sind allerdings, wie es scheint, in den Hintergrund getreten zugunsten handfester Aktionen und politischer Skandale wie sein Corona-Management, die Versuche seiner Amtsenthebung, der Sturm aufs Kapitol oder eben seine juristische Anklage. Auch der Impfdiskurs und die Querdenkerbewegung wären wichtige Beiträge zu diesem Thema gewesen, die ich jetzt leider nicht mehr berücksichtigen kann. Aber so zeigt sich auch: die wesentlichen Themen- und Diskurspunkte bleiben bestehen. Nicht nur, weil sich das Thema des Trumpismus oder das der Wissenschaftstheorie nicht bald erledigen werden, sondern auch, weil die Fronten und Ressentiments nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft eher härter statt weicher werden. Die Debatte um Coronamaßnahmen hat die knallharte lebensnahe Relevanz und Aktualität von „gefühlter“ und „echter“ Wahrheit bzw. darauf beruhender Entscheidungen vor Augen geführt. Auch die Macht-, Medien- und Diskurskämpfe um Identitätspolitik (jetzt als Kampfbegriff en vogue: „woke“), Establishment, und damit wesentlich eben auch postmodernes Denken werden weitergehen. Wie in einem Brennglas fokussiert sich hier die allumfassende Frage nach dem Zweck, Gestaltung und Wesen der unfreiwillig gemeinsam bewohnten Gesellschaft. Und da all diese Debatten immer einen faktischen Bezugspunkt haben müssen, gerät dieser selbst – d.h. Tatsachen und deren (wissenschaftliche) Urheberschaft – in die Scharmützel und das Ringen um Begriffe, Definitionen, Tatsachen, Interpretation und Deutungsmacht an sich. Aus diesem Grunde stelle ich den Artikel - mit einer kleinen Bibliographie - nun online, wenn auch spät und mit dem Gefühl, zu einigen Punkten zu viel und zu vielen zu wenig gesagt zu haben.

 

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